Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Stärke und List ihr Volk rettete. Um 590 v. Chr. belagerten von Holofernes angeführte babylonisch-assyrische Truppen die Stadt Betulia. Da die Belagerung schon bald schweren Tribut von den Einwohnern forderte, ersann Judith einen Plan, um sie zu befreien. Sie gab vor, mit ihrer Dienerin aus der Stadt zu fliehen, und begegnete dabei Holofernes, den sie mit ihrer großen Schönheit berückte. Der Heerführer ließ zu ihren Ehren ein Festmahl ausrichten; der Wein floss in Strömen und Judith ermunterte Holofernes zum Trinken. Nach dem Mahl zog sie sich mit ihm in sein Zelt zurück, wo sie ihn weiter betörte. Trunken und satt von allen Lustbarkeiten, fiel er in einen tiefen Schlaf. Judith zog sein Schwert, das über seinem Kopf hing, und enthauptete ihn. Dann brachte sie seinen Kopf nach Betulia. Als die Einwohner den abgetrennten Kopf des feindlichen Heerführers erblickten, schlugen sie die Babylonier in die Flucht.
Klimt hat in Judith eine extreme Interpretation der frommen Witwe geschaffen, indem er sie als Symbol für die vernichtende Macht des erotischen Triebs der Frau darstellt. Judith, nur spärlich bekleidet und im Hochgefühl des Triumphs über Holofernes, glüht vor Sinnlichkeit. Ihr Haar ist ein dunkler Himmel zwischen den goldenen Zweigen assyrischer Bäume – Fruchtbarkeitssymbole, die ihre Erotik verkörpern. Diese junge, ekstatische, extravagant geschmückte Frau blickt den Betrachter aus halb geschlossenen Augen an, als sei sie in einem Traum orgasmischer Verzückung befangen. Während Judith den Betrachter einlädt, an ihrem ekstatischen Zustand teilzuhaben, präsentiert sie Holofernes’ abgetrennten Kopf, der nur zu einem Teil sichtbar ist. Das Thema der Enthauptung setzt sich in Judiths goldenem Halsreif fort – in dem gleichen vergoldeten Stil wie der Hintergrund gehalten, trennt er Judiths eigenen Kopf gleichsam von ihrem Körper. Auch wenn der Titel des Gemäldes die Figur als Judith, jene gefährliche Schönheit, identifiziert, ähnelt sie Adele Bloch-Bauer und ist herausgeputzt wie eine der eleganten Damen der damaligen Wiener Oberschicht, die Klimt zu malen pflegte und mit denen er Affären hatte. Ihre Juwelen sind von altertümlicher Machart, doch offenkundig moderner Herkunft, während ihr Gewand an die edlen Materialien erinnert, die den Kunstgewerbestil der Wiener Werkstätte kennzeichneten.
Abb. 8-28.
Michelangelo Merisi da Caravaggio, Judith und Holofernes (1598–1599).
Öl auf Leinwand.
Es ist faszinierend, Klimts Interpretation von Judith mit der Caravaggios zu vergleichen (Abb. 8-28). Wie Klimt scherte sich auch Caravaggio nicht um Konventionen. Er hatte keinen Respekt vor den klassischen Auffassungen idealer Schönheit und wollte Kunst in einem neuen Licht betrachten. Und ebenso wie Klimt beschuldigte man Caravaggio, die Öffentlichkeit zu schockieren. Doch im Gegensatz zu Klimts Judith, die die Betrachter verstört, weil sie ihre tödliche verführerische Macht feiert, sieht Caravaggios Judith jungfräulich aus und ist abgestoßen von ihrer Tat und ihrer Sexualität.
Klimts Judith ist eine wahre Femme fatale – sie weckt in Männern Lust und Angst zugleich und genießt beides. Wir verstehen, warum Holofernes ihr verfiel – sie ist schön und verführerisch. Überdies ist in dem Bild trotz der Enthauptung keine Spur von Blut oder Gewalt zu entdecken. Die Ermordung des Holofernes durch Judith ist nur symbolisch gemeint. Demnach offenbart das Gemälde das psychische Problem, das laut Freuds Vorhersage die Befreiung der weiblichen Sexualität begleiten würde: die Albträume der Männer von sexuellen Ängsten und die Beziehung zwischen Sex und Aggression, Leben und Tod. Klimt erkannte dieses Problem schon, bevor Freud auch nur ein Wort über Kastrationsangst geschrieben hatte.
Das Gemälde ist auch deshalb interessant, weil es uns weitere Erkenntnisse über die sexuellen Sehnsüchte von Frauen bietet. In seinen zarten Zeichnungen präsentiert Klimt im Allgemeinen die angenehmen Seiten der Erotik, mit Frauen, die ihre Sexualität gemeinsam mit einem Partner oder, sich selbst genügend, in privaten Fantasien bei der Masturbation genießen. Doch in Judith enthüllt Klimt auch die destruktiven Aspekte der Sexualität und zeigt uns damit eine noch größere Bandbreite an sexuellen Gefühlen auf, die Frauen erleben können – und in denen sie Männern ähnlich sind.
Abb. 8-29.
Gustav Klimt, Tod und Leben (um 1911).
Öl auf Leinwand.
Mit den Themen Liebe und Tod setzt sich
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