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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Märchenbüchern für Kinder erscheinen, die die Wiener Werkstätte finanziell unterstützte, und mit den leuchtenden Farben der Lithografien und ihren dicken schwarzen Konturen wirkt es auf den ersten Blick tatsächlich wie ein Kinderbuch. Es ist jedoch weder ein Buch für Kinder, noch basiert es auf einem existierenden Märchen. Es ist vielmehr eine originäre und sehr persönliche poetische Erkundung des erotischen Reifeprozesses in Form eines Liebesbriefes an Lilith Lang, die damals 16 Jahre alt war. Sie hatte früher schon für Kokoschka Modell gestanden, und von 1907 bis 1908 waren sie ein Paar gewesen. Doch als das Buch erschien, war ihre Beziehung, die nach Kokoschkas Wünschen zur Eheschließung hätte führen sollen, bereits in die Brüche gegangen – weil Kokoschka übertrieben besitzergreifend war, wie er selbst sagte.
    Die Lithografien verraten einen höchst eigenwilligen Stil (Abb. 9-6). Sie sind flach und stilisiert, mit Ornamenten versehen und ähneln in Stimmung und Farbton einer Mischung aus byzantinischer und primitiver Kunst oder auch japanischen Holzschnitten und dem Jugendstil. Obwohl die Lithografien reich an flachen, geometrischen Formen sind, ist Kokoschkas Linienführung sehr viel eckiger und nervöser als die sinnliche Kalligrafie Klimts und ähnelt mehr einer Karikatur. Die Bilder sollen nicht wortgetreue Illustrationen des Gedichts sein, sondern geben, wie das Gedicht, den inneren Aufruhr eines heranwachsenden Jungen (vermutlich des Künstlers) wieder, der auf der Suche nach dem Mädchen seiner Träume (Lilith) vom Erwachen der Sexualtriebe in seinem Körper gequält wird.
    Die beiden jugendlichen Liebenden werden überwiegend getrennt dargestellt, umgeben von bizarren Landschaften, einem Garten Eden mit Teichen, in denen Goldfische schwimmen, und Inseln, auf denen Rehe, Vögel, Schlangen und Berghirsche leben. In dieser modernen Version von Adam und Eva erscheinen die Liebenden erst im letzten Bild gemeinsam, das sie nach der Vertreibung aus dem Garten zeigt (Abb. 9-6). Voller Scham ihrer Nacktheit bewusst, stehen sie getrennt voneinander da, ohne ihre Liebe wahrhaftig gelebt zu haben. Sie lassen ihr Paradies und ihre unschuldige Jugend hinter sich und treten voller Ängste in die Erwachsenenwelt der erotischen Triebe ein.
    Die Bilder nahmen in eindrucksvoller Manier bereits vieles von dem vorweg, was später die expressionistische Kunst ausmachte. Insbesondere das nackte Selbstporträt im letzten Bild ist ein Vorbote der Flut nackter Selbstporträts, die Egon Schiele einige Jahre danach produzierte und die laut Emily Braun als zentrales Thema der gegenständlichen Kunst Großbritanniens in den 1950er- und 1960er-Jahren wieder aufgegriffen wurden – vor allem von Francis Bacon und Sigmund Freuds Enkel Lucian Freud.
    Die Sprache des Gedichts ist von Erotik durchtränkt, expressionistisch und nahezu unverständlich. Der jugendliche Dichter der Geschichte beginnt mit einem Prolog und beschreibt dann sieben aufeinanderfolgende Träume, die jeweils eingeleitet werden mit »und ich fiel nieder und träumte«. In den Träumen verwandelt sich der Dichter in einen Werwolf, der in den Garten seiner Geliebten eindringt:
    ihr milden Frauen
    was quillt in euren roten mänteln
    in den leibern die erwartung verschlungener glieder seit gestern und jeher?
    spürt ihr die aufgeregte wärme der zittrigen
    lauen luft –
    ich bin der kreisende wärwolf –
    wenn die abendglocke vertönt
    schleich ich in eure gärten
    in eure weiden
    breche ich in euren friedlichen kraal
    mein abgezäumter körper
    mein mit blut und farbe erhöhter körper
    kriecht in eure laubhütten
    schwärmt durch eure dörfer
    kriecht in eure seelen
    schwärt in euren leibern
    aus der einsamsten stille
    vor eurem erwachen gellt mein geheul
    ich verzehre euch
    männer
    frauen
    halbwache hörende kinder
    der rasende liebende wärwolf in euch
    und ich fiel nieder und träumte von unaufhaltbaren änderungen
    …
    nicht die ereignisse der kindheit gehen durch mich und nicht die der mannbarkeit
    aber die knabenhaftigkeit
    ein zögerndes wollen
    das unbegründete schämen vor dem wachsenden
    und die jünglingsschaft
    das überfließen und alleinsein
    ich erkannte mich und meinen körper
    und ich fiel nieder und träumte die liebe 100
    Die Lithografien wurden erstmalig im Frühling 1908 bei der Kunstschau Wien ausgestellt, die von Klimt zum 60-jährigen Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs organisiert wurde. Obwohl Klimt spürte, dass

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