Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
(1771–1777?).
Zinnabguss.
VON 1909 BIS 1910 MALTE KOKOSCHKA eine Reihe außergewöhnlicher, explosiver Porträts, in denen er die Techniken, die er bei seiner Skulptur angewandt hatte, auf die Leinwand übertrug: zahlreiche Kratzer, Daumenabdrücke und unnatürliche Farben. Die Porträts waren eine dramatische Abkehr vom zeitgenössischen Geschmack, der von Klimts wunderschön dekorierten Frauenporträts geprägt war. Kokoschkas Büste, seine Porträts und zwei expressionistische Stücke, die er um diese Zeit schrieb, versetzten die Wiener Gesellschaft in Aufruhr.
Kokoschkas Porträts markieren einen Quantensprung in der Entwicklung der Maltechnik zur Zeit der Wiener Moderne. Ganz ähnlich wie Klimt, der mit der Vergangenheit brach, indem er Jahrhunderte illusionistischer Kunst über den Haufen warf und byzantinische Flächigkeit in die Moderne einführte, betrat auch Kokoschka Neuland, indem er manieristische Übertreibung in Form und Farbe mit primitiver Kunst und Elementen der Karikatur verknüpfte. Der Manierismus war um 1520 aufgekommen, als Abkömmling und zugleich Antwort auf die harmonische, rationale und schöne Abbildung der Welt in der italienischen Hochrenaissance. Die Manieristen wandten sich gegen die Vorstellung, dass die Schönheit der Natur am besten durch sorgfältige Beobachtung und präzise Darstellung einzufangen sei. Sie veränderten und übertrieben die Details und verliehen Personen, Objekten oder Landschaften eine Dynamik, um ein dramatischeres, ästhetisch aufrüttelndes und psychisch eindringliches Bild zu schaffen.
Wie John Shearman, ein Experte für jene Epoche, erläutert, gestaltet der Manierismus die Natur gemäß seinem Blickwinkel und dramatischem Gespür um, indem er die Form übertrieben gestaltet und Farben theatralischer einsetzt. Laut Shearman stammt von Michelangelo, einem Giganten der Hochrenaissance und frühen Vertreter des Manierismus, der Hinweis: »Eine Figur hat am meisten Grazie und Beredsamkeit, wenn man sie in Bewegung sieht.« Alle Bewegungen des Körpers seien so darzustellen, dass die Gestalt anmutig erscheine, was gelinge, wenn sie eine gewundene Form habe, »einer sich bewegenden Schlange gleich«. 102
Tizian, in den Augen vieler Kunsthistoriker der innovativste Porträtmaler der europäischen Geschichte, übernahm diese frühen Ideen des Manierismus und wandte sie auf ein neues Malverfahren an – Öl auf Leinwand. Bis Anfang des 16. Jahrhunderts hatte sich die italienische Kunst der Renaissance vornehmlich auf Fresko- und Eitemperafarben auf Holztafeln konzentriert; diese Farben hatten eine Wasserbasis, waren geschmeidig und trockneten schnell. Ölfarbe ist völlig anders – sie trocknet langsam und ermöglicht den Künstlern demzufolge, bestimmte Bereiche eines Gemäldes mehrfach zu überarbeiten. Ölfarben erlauben den Malern auch, zähflüssige, lichtdurchlässige Anstriche aufzutragen, mit denen man nacheinander beliebig viele trockene Farbschichten lasieren kann, um ein Gemälde fortlaufend zu verändern und ihm mehr Tiefe und Oberflächenstruktur zu verleihen. So konnte Tizian Gefühle vermitteln, indem er durchsichtige Farbschichten übereinanderlegte und mit kräftigen Pinselstrichen Teile der Bildoberfläche betonte und verzerrte. Laut Holland Cotter signierte Tizian seine Gemälde fortan nicht mehr, weil seine »rohe« Behandlung der Farbe, darunter das Zerkratzen der bemalten Oberfläche, so einzigartig war, dass seine Werke mühelos identifiziert werden konnten.
Kokoschka vermerkt in seiner Autobiografie, dass ihn Tizians Verwendung von Licht und Farbe dazu inspirierte, die Illusion von Bewegung zu erzeugen und so die Farbe durch Perspektive zu ergänzen. Er ist begeistert von Tizians Werk Pietà , bei dem der Künstler mithilfe des Lichts den Raum umgestaltet und neu erschafft, sodass sich das Auge des Betrachters nicht mehr an markanten Blickpunkten wie Konturen und lokaler Farbgebung orientiert, sondern sich ganz auf die Lichtintensität konzentrieren kann. Aufgrund der frühen Begegnung mit Tizians Venus mit dem Orgelspieler und der späteren mit der Pietà hält er in seiner Autobiografie fest: »Meine Augen haben sich geöffnet wie ehedem in der Kindheit, als mir das Geheimnis des Lichts zum erstenmal einleuchtete.« 103
El Greco, der in Griechenland geborene spanische Manierist, übte einen ähnlich tiefen Einfluss auf Kokoschka aus. Eine Ausstellung von Gemälden El Grecos im Pariser Salon d’Automne Oktober 1908 hatte eine
Weitere Kostenlose Bücher