Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
sich Kokoschka in eine ganz andere Richtung als er selbst entwickeln würde, unterstützte er ihn, wo er konnte, und verschaffte ihm die erste Gelegenheit, seine Werke der Öffentlichkeit zu präsentieren. Seine Entscheidung begründete Klimt mit den Worten: »Oskar Kokoschka ist das größte Talent der jungen Generation. Und selbst wenn wir Gefahr liefen, dass unsere Kunstschau demoliert würde, nun, dann geht man eben zugrunde. Aber man hat seine Pflicht getan.« 101 In der Tat waren Kokoschkas Lithografien so kühn, dass sie ihm den Titel »Oberwildling« eintrugen und bereits den Durchbruch zum Expressionismus ahnen ließen, der ihm wenige Jahre später gelingen sollte.
ADOLF LOOS SAH Die träumenden Knaben auf der Kunstschau und ermutigte Kokoschka nachdrücklich, seinen dekorativen Stil zu verändern und nicht mehr für die Wiener Werkstätte zu arbeiten. Schon im darauffolgenden Sommer, ein Jahr vor seinem Examen an der Kunstgewerbeschule, hatte Kokoschka den Kunstgewerbestil und auch Klimts Einfluss hinter sich gelassen. Darin wurde er von Karl Kraus und Loos bestärkt, die beide Klimts bemerkenswerte Zeichnungen nie gesehen hatten und dessen reich ornamentierte Gemälde für oberflächlich hielten. Die Freundschaft zwischen dem 40-jährigen Loos und dem 22-jährigen Kokoschka war entscheidend für Kokoschkas Wandlung zu einem wagemutigen, innovativen Künstler, der nicht nach Schönheit, sondern nach Wahrheit strebte (Abb. 9-7).
Abb. 9-7.
Oskar Kokoschka (1886–1980).
Dieses Foto wurde um 1920
aufgenommen, nach der
Ernennung Kokoschkas
zum Professor an der
Hochschule für Bildende
Künste Dresden.
Der stilistische Bruch mit Klimt manifestierte sich laut Cernuschi in Kokoschkas bemalter Tonbüste Selbstbildnis (Der Krieger) von 1909 (Abb. 9-8). Die Entstehung dieser polychromen Büste, »mit aufgerissenem Mund, dem Ausdruck eines heftigen Schreies«, wie Kokoschka in seiner Autobiografie schrieb, stand unter dem Einfluss einer polynesischen Maske, die er im Naturhistorischen Museum Wien gesehen hatte. Beeinflusst worden war sie sehr wahrscheinlich auch von den bemerkenswerten Charakterköpfen Franz Xaver Messerschmidts, des österreichischen Barockbildhauers, dessen Darstellungen extremer Emotionen Vorboten des österreichischen Expressionismus waren (Abb. 9-9).
Abb. 9-8.
Oskar Kokoschka,
Selbstbildnis (Der Krieger) (1909).
Mit Temperafarben bemalte Büste aus Lehm.
Mit dieser Büste versuchte Kokoschka, seine Kunst wahrhaftiger und zugleich schriller zu gestalten, indem er die von ihm angewandten Techniken offenbarte – die physikalischen Methoden zur Bearbeitung des ungebrannten Tons, das Verfahren, mit dem er die Haut gleichsam abschälte und suggerierte, dass direkt unter der Oberfläche das Blut fließt. Um darüber hinaus seine Individualität als Künstler zu betonen, drückte er seine Hände in den Ton und verwendete unnatürliche Farben – rot über den Augenlidern sowie blau und gelb auf Gesicht und Haaren –, um extreme Emotionen jenseits aller gesellschaftlichen oder künstlerischen Etikette zu vermitteln. Hier sehen wir Kokoschkas ersten Versuch, die realistische Verwendung von Farbe und Material zugunsten ihrer emotionalen Eigenschaften aufzugeben. Indem Kokoschka die Farbe von ihrer abbildhaften Funktion befreite, womit van Gogh bereits begonnen hatte, verlagerte er den Schwerpunkt seiner Arbeit von darstellerischer Genauigkeit zu reiner Expression.
In den Nachwehen des Skandals um Klimts Deckengemälde wandte sich die Wiener Schule der Kunstgeschichte von der klassischen Verbindung Wahrheit – Schönheit ab und freundete sich mit dem Gedanken an, dass die wahrhaftigste Kunst, wie diejenige Messerschmidts und Kokoschkas, ihre Objekte so abbildet, wie sie wirklich sind – seien sie auch wütend oder verunstaltet. Max Dvořák, ein Schüler von Alois Riegl und Franz Wickhoff an der Wiener Schule der Kunstgeschichte, wurde ein begeisterter Anhänger Kokoschkas. Er verfasste sogar das Vorwort zu einer Porträtsammlung Kokoschkas, die 1921 unter dem Titel Das Konzert. Variationen über ein Thema in gedruckter Form erschien und mehrere Wiederauflagen erlebte. Die Porträts zeigen Camilla, die Frau des österreichischen Kunsthistorikers Karl Maria Svoboda, als Zuhörerin beim Klaviervortrag ihres Mannes. In seiner Einführung schreibt Dvořák, Kokoschka nutze das Physische, um das Geistige abzubilden.
Abb. 9-9.
Franz Xaver Messerschmidt,
Der unfähige Fagottist
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