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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Klimt in einer Reihe von Kontexten auseinander; am berühmtesten sind dabei wohl seine Darstellungen des Lebenszyklus. In Tod und Leben von 1911 (Abb. 8-29) ist eine Menschentraube (die Lebenskraft) auf der rechten Seite zusammengeballt, gegenüber der einzelnen Figur des Todes auf der linken Seite. Klimt stellt die Beziehung des Todes zum Leben mit getrennten Farbbereichen dar: Der Tod hüllt sich in die Farben der Nacht, während die Menschen, die das Leben und die Liebe verkörpern, eine reiche Vielfalt bunter, fröhlicher Ornamente präsentieren. Noch krasser sind die Liebe und der Tod in Hoffnung I dargestellt – eine nackte werdende Mutter, deren leuchtend rotes Haar in ihren stolz zur Schau gestellten Schamhaaren wieder aufgenommen wird, träumt von ihrem Kind, während der Schatten des Todesschädels unbemerkt hinter ihr lauert (siehe Abb. 3-3).
    Es sollte uns daher nicht überraschen, dass sich Kokoschka und Schiele als Nachfolger Klimts mit Sexualität, Aggression, Tod und den unbewussten Trieben, die menschliches Verhalten steuern, ebenfalls auf eine ganz eigene Art und Weise auseinandergesetzt haben.
    91 Lillie, S. und G. Gaugusch, Portrait of Adele Bloch-Bauer , New York 1984, S. 59.
    92 Gustav Klimt zitiert nach Gustav Klimt: Dokumentation , hg. von C. M. Nebehay, Wien1969, S. 32 (Notiz eines ungenannten Gesprächspartners auf undatiertem Blatt, verwahrt in: Bibliothek der Stadt Wien, Inv. Nr. 152980).

KAPITEL 9
    DIE DARSTELLUNG DER PSYCHE IN DER KUNST
    O bwohl Oskar Kokoschkas frühes Werk stark von Gustav Klimts visuell üppigem und dekorativem Stil beeinflusst wurde, verabschiedete er sich schon bald von Klimt als Vorbild. Laut Kokoschka drang der Jugendstil nicht weit unter die Oberfläche vor – er »versuche nur, die Oberfläche zu verschönern, und erreiche nicht das Innenleben«. 93 Kokoschka kritisierte Klimts Gemälde, weil sie den Sexualtrieb mithilfe von Symbolen und Ornamenten darstellten, und meinte, der Künstler male Damen der Gesellschaft, die mit der Sexualität spielten. Außerdem empfand er Klimts Frauenbilder als emotionslos.
    Kokoschka malte seine Porträts mit einer Mischung aus psychoanalytischen Einblicken und expressionistischem Stil, wobei er die Überzeugung ausdrückte, dass Wahrheit in der Kunst auf dem Erkennen der inneren Wirklichkeit beruht. Sich selbst beschrieb er als psychologischen »Büchsenöffner«:
    Wenn ich Porträts male, geht es mir nicht darum, das Äußerliche eines Menschen, den Rang oder Attribute seiner geistlichen oder weltlichen Prominenz oder bürgerlichen Provenienz festzuhalten. … Was die Gesellschaft früher an meinen Porträts schockierte, war das, was ich in einem Gesicht, einem Mienenspiel, in Gebärden zu erraten suchte, um dies in meiner Bildersprache als Summe eines Lebewesens in einem Gedächtnisbild wiederzugeben. 94
    Indem Kokoschka sich daranmachte, den seelischen Kern seiner Modelle offenzulegen, wurde er zum ersten expressionistischen Maler Österreichs. Später rühmte sich Kokoschka, er arbeite im Gleichschritt mit Sigmund Freud daran, die unbewusste psychische Welt der Menschen zu enthüllen. So wie Freud Schicht für Schicht der Seele freilegte, um die wahre Persönlichkeit eines Patienten zu entdecken, sah Kokoschka sich als Erforscher seiner eigenen verborgenen psychischen Prozesse sowie der seiner Modelle. Wie bereits erwähnt, bezeichnete Kokoschka die expressionistische Malerei, mit der er sich stark identifizierte, in seiner 1971 erschienenen Autobiografie auf kühn unbescheidene Weise als Konkurrenz zur »Entdeckung der Psychoanalyse von Siegmund Freud und der Quantentheorie von Max Planck«. Expressionismus sei »eine Zeiterscheinung, keine Kunstmode«. 95

    Abb. 9-1.
Johann Amos Comenius, Orbis Sensualium Pictus (Neuauflage 1672).
Zeichnung.
    WIE KLIMT WAR AUCH KOKOSCHKA VON Biologie fasziniert. Als er von seiner Kindheit berichtet, erzählt er: »Mein erstes Buch – es hat ein Leben lang auf mich gewirkt – war das Anschauungsbuch ›Orbis Pictus‹ des Bischofs der Mährischen Brüdergemeinde Jan Amos Comenius. In diesem Buch führte er alles, was seiner Meinung nach existierte, in Bildern der Jugend vor Augen … Aus dem ›Orbis pictus‹ lernte ich, wie die Welt ist und wie sie sein soll, so daß sie für Menschen wohnlich wird.« 96 Orbis Sensualium Pictus , das 1658 erstmals veröffentlicht und bis 1810 fortlaufend neu aufgelegt wurde, war die erste Kinder-Enzyklopädie. Sie war reich bebildert und wollte einen

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