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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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– er interpretierte sie auf eine moderne Weise. Während in der byzantinisch-christlichen Kunst betende oder segnende Hände Spiritualität darstellen, drücken Kokoschkas Hände den Gemütszustand der Modelle, ihre unbewussten erotischen und aggressiven Impulse aus. Außerdem nutzt Kokoschka Hände, um soziale Kommunikation und Wechselbeziehungen abzubilden.
    Der Kokoschka-Experte Patrick Werkner behauptet, der Künstler habe sich auch durch die Gesten des modernen Tanzes (oder Ausdruckstanzes) beeinflussen lassen, der um 1900 in Wien aufkam und die stilisierten Bewegungsformen des Balletts in expressiver Weise aufbrach. Möglicherweise wurde er auch durch die Abbildungen von Jean-Martin Charcots Hysterie-Patienten beeinflusst, deren Arme und Hände alle möglichen verzerrten Positionen einnahmen. Charcots Arbeiten hatten in Josef Breuer, Freud und anderen Ärzten das Interesse an gewissen Körperhaltungen ihrer eigenen Hysterie-Patienten geweckt. Mit der Beschreibung dieser Haltungen in ihren Publikationen schufen sie eine ästhetische Typologie von mit Hysterie verbundenen Körperbildern – eine neue Ikonografie –, die durchaus in Kokoschka und auch Schiele Wirkung gezeigt haben mag.
    Drei bemerkenswerte und völlig verschiedene Beispiele illustrieren, wie Kokoschka Hände nutzte, um einen Gefühlszustand zwischen zwei Menschen darzustellen. Das erste Beispiel ist das Porträt des Babys Fred Goldman von 1909, mit dem Titel Kind mit den Händen der Eltern . Die rechte Hand der Mutter und die linke des Vaters scheinen das Kind schützen und behüten zu wollen. Die Hände stehen für die Eltern und befinden sich in einem Zwiegespräch gemeinsam empfundener Zuneigung. Zwischen den beiden Händen besteht zudem ein interessanter Kontrast und eine Art dynamischer Ergänzung. Die Hand des Vaters ist ausgestreckt, schützend und zugleich hemmend, von teils lebhafter rötlicher Färbung. Die Hand der Mutter ist blass, viel weicher, entspannter und sanft. Mit dieser Abbildung der Hände wird das Porträt eines Kindes zu einem Familienporträt (Abb. 9-20).
    Selbst in diesem wunderbaren und liebevollen Gemälde offenbart Kokoschka seine fast unheimliche Fähigkeit, Schwachpunkte aufzudecken, die für andere Menschen nicht immer gleich offensichtlich sind. Die Hand des Vaters hat er mit einem gebrochenen Finger gemalt – einer Verletzung aus der frühen Kindheit, die sein Modell schon ganz vergessen hatte.

    Abb. 9-20.
Oskar Kokoschka, Kind mit den Händen der Eltern (1909).
Öl auf Leinwand.
    Ein ganz anderer, vielleicht noch aussagekräftigerer Hände-Dialog wird in dem Doppelporträt von Hans Tietze und Erica Tietze-Conrat dargestellt (Abb. 9-21). Beide waren Kunsthistoriker mit zahlreichen gemeinsamen Publikationen und saßen jahrelang tagein, tagaus am selben Schreibtisch. Als das Doppelporträt 1909 entstand, war Hans 29 und Erica 26; seit vier Jahren waren sie verheiratet. Laut Kokoschka sollte das Porträt ihr Eheleben symbolisieren. Hans, ein Student von Riegl und Mitglied der Wiener Schule der Kunstgeschichte, unterrichtete später Gombrich und engagierte sich für zeitgenössische Kunst. Erica, eine Spezialistin für die Kunst des Barock, stand getrennt von ihrem Mann für das Porträt Modell.

    Abb. 9-21.
Oskar Kokoschka, Hans Tietze und Erica Tietze-Conrat (1909).
Öl auf Leinwand.
    Obwohl sie Mann und Frau sind, malt Kokoschka sie, als bestünde keine Verbindung zwischen ihnen. Er nutzt die Gelegenheit, um den Unterschied zwischen den Geschlechtern in den Blickpunkt zu rücken, und verdeutlicht diesen Unterschied durch unverkennbar sexualisierte Gesten und Körperhaltungen. Ihre Hände, die bei Hans unverhältnismäßig groß sind, schaffen eine Brücke zwischen ihnen, doch die Gesichter sind nicht einander zugewandt. Ihre Blicke gehen in verschiedene Richtungen, und mit ihren Händen scheinen sie ein vielsagendes, erotisch gefärbtes Gespräch zu führen, das sie ganz gefangen nimmt und auch den Betrachter einbezieht. Sie erscheinen als zwei unabhängige Personen, jede mit eigenen inneren Ausrichtungen und sexuellen Bedürfnissen. Laut Carl Schorske vermittelt das Licht hinter Hans eine Art männlicher sexueller Energie. Wie in einem Spiegelbild der Rolle Alma Mahlers in Die Windsbraut scheint sich Erica von ihrem Mann zurückzuziehen, der sich leicht vorbeugt, als wollte er sich ihr nähern.

    Abb. 9-22.
Oskar Kokoschka, Spielende Kinder (1909).
Öl auf Leinwand.
    Kokoschkas Maltechnik bei diesem Porträt

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