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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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und seinen Arm genauso in Mitleidenschaft zog, wie Kokoschka es gemalt hatte. Ob Kokoschka die Abbildung zufällig so angefertigt hatte oder ob der Blick des Künstlers für Details und sein Gespür für die physische und psychische Konstitution seines Modells ihn befähigt hatten, eine vorübergehende Durchblutungsstörung des Gehirns als Vorboten eines Schlaganfalls zu erkennen, bleibt ungeklärt.

    Abb. 9-13.
Oskar Kokoschka,
Ludwig Ritter von Janikowski (1909).
Öl auf Leinwand.
    Ein weiteres Beispiel für Kokoschkas Vorwissen liefert sein Gemälde Ludwig Ritter von Janikowski von 1909 (Abb. 9-13). Janikowski, ein Literaturwissenschaftler und Freund von Karl Kraus, wird hier dargestellt, als stünde er vor dem Ausbruch einer Psychose, was kurz nach Vollendung des Porträts tatsächlich geschah. Kokoschka porträtiert diesen geistigen Zustand, indem er sich auf Janikowskis Kopf konzentriert und ihn so malt, als wäre er in Bewegung und würde nach unten aus dem Bild herausrutschen. Die hellen, fast surrealistischen Farbflecken auf seinem Gesicht und im Hintergrund schaffen ein Gefühl des Entsetzens, das Menschen typischerweise empfinden, wenn sie vor einem psychotischen Zusammenbruch stehen. Janikowski blickt den Betrachter unmittelbar an. Wir verstehen seine enorme Furcht und haben Mitleid mit ihm, weil er so entsetzt schaut – seine Augen sind asymmetrisch und angsterfüllt, seine Ohren sind ebenfalls asymmetrisch, er hat keinen Hals und seine Jacke verschmilzt mit dem Hintergrund. Dass Janikowski sich am Rande des Wahnsinns befindet, vermittelt Kokoschka auch dadurch, dass er mit dem hölzernen Pinselende Linien einkerbt und tiefe Furchen und Falten durch Gesicht, Augen, Mund und die flammend roten Ohren sowie den Hintergrund zieht.
    Hilton Kramer schrieb über diese frühen Porträts von Kokoschka:
    Den Stil, den Kokoschka in den frühen Porträts perfektioniert hat, hat man zuweilen mit »Malen der Psyche« oder »Malen der Seele« umschrieben, was bereits darauf hinweist, dass man in diesen Bildern vergeblich nach konventioneller realistischer Darstellung, geschweige denn nach Schönfärberei suchen wird. … Da ist stattdessen eine tiefe Empathie und die Entschlossenheit, sich nicht von den Masken des öffentlichen Auftretens täuschen zu lassen, womit ihm anscheinend gelingt, bis zum Innersten der Seele vorzudringen. … Und als der Künstler 1913 schließlich sein eigenes Porträt mit der Hand auf der Brust malte ( Selbstbildnis) , nahm er sich selbst keineswegs von dieser radikalen Offenheit aus. 113
    Obwohl Kokoschka zu Eitelkeit und Eigenlob neigte, gibt es in seinen Selbstporträts keinerlei Hinweise auf diese Eigenschaften. Ganz im Sinne von »Wien 1900« analysierte er seine Persönlichkeit mit psychologischen Mitteln, welche durchdringender und gnadenloser waren als diejenigen seiner künstlerischen Vorgänger, die diese im gleichen Alter wie Kokoschka verwendet hatten. Tatsächlich war Kokoschka in seiner Selbstanalyse ehrlicher und eindeutig kritischer als Freud oder Arthur Schnitzler. Von Anfang an offenbaren Kokoschkas Selbstporträts eine tiefgreifende Erforschung der eigenen Psyche.

    Abb. 9-14.
Oskar Kokoschka,
Plakatentwurf für das
Titelblatt des Magazins
Der Sturm (1911).
    Mit dem berühmten Selbstporträt auf dem Plakat, das Kokoschka 1911 für das Kunstmagazin Der Sturm entwarf, reagiert er auf die schonungslose Beurteilung der Wiener Kritiker, die ihn wegen seiner expressionistischen Kunstwerke und Dramen als »Oberwildling« titulierten. Er stellt sich als Ausgestoßener dar, als Kreuzung zwischen einem Kriminellen (rasierter Schädel, kräftiges, vorstehendes Kinn) und Christus, der mit verzerrtem Gesicht auf ein blutendes Stigma in seiner rechten Brust deutet, als wollte er die Wiener für die Wunde, die sie ihm zugefügt haben, anklagen (Abb. 9-14).
    Eine andere Form der Selbstkritik offenbart er in den Selbstporträts, die während seiner stürmischen Affäre mit Alma Mahler entstanden, der Witwe Gustav Mahlers und einer der schönsten Frauen Wiens. Im April 1912, drei Tage nach ihrer ersten Begegnung und etwa elf Monate nach dem Tod ihres Mannes, machte Kokoschka ihr in einem leidenschaftlichen Brief einen Heiratsantrag. Eine turbulente Beziehung begann, in der sich Kokoschka Almas Liebe nie sicher war. Mit ihren 33 Jahren war Alma sehr viel reifer und erfahrener als der 26-jährige Kokoschka. Die Affäre dauerte zwar nur zwei Jahre, aber sie bestimmte das frühe Leben des

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