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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Kunstwerk schaffe, so erschaffe der Betrachter es erneut, indem er auf die dem Kunstwerk innewohnende Mehrdeutigkeit reagiere. Wie groß der Anteil des Betrachters dabei sei, hänge vom Grad der Mehrdeutigkeit ab.
    In diesem Zusammenhang griff Kris eine Idee auf, die der Literaturkritiker William Empson 1930 aufgebracht hatte – Mehrdeutigkeit entsteht, wenn »alternative Betrachtungsweisen [eines Kunstwerks] ohne eine glatte Fehlinterpretation möglich sind«. 125 Empson geht davon aus, dass Mehrdeutigkeit den Betrachtern erlaubt, die ästhetische Entscheidung oder den ästhetischen Konflikt im Künstler nachzuvollziehen. Dagegen verweist Kris darauf, dass die Mehrdeutigkeit dem Künstler erlaubt, den Konflikt und die Komplexität, die er empfindet, auch dem Betrachter zu übermitteln.
    Kris kannte darüber hinaus den Essay »Abstraktion und Einfühlung: ein Beitrag zur Stilpsychologie« des deutschen Kunsthistorikers Wilhelm Worringer, der 1908 als Dissertation veröffentlicht wurde. Unter starkem Einfluss von Riegl legt Worringer dar, dass die Betrachter von Kunst zwei Erkenntnisprozesse durchlaufen müssen – Einfühlung , die es den Betrachtern erlaubt, sich in einem Gemälde zu verlieren und mit seinem Objekt eins zu sein, und Abstraktion , die es den Betrachtern ermöglicht, von der Komplexität der Alltagswelt zurückzutreten und der Symbolsprache der Formen und Farben in einem Gemälde zu folgen.
    IN SEINER STUDIENZEIT BEI DVOŘÁK, für den die verlängerten Körperteile und die verzerrte Perspektive der Manieristen Vorläufer des österreichischen Expressionismus waren, begann Kris sich verstärkt dafür zu interessieren, wie Künstler mit Verzerrung arbeiten, um damit ihre Einblicke in die Psyche eines porträtierten Menschen zu vermitteln, und wie die Betrachter auf diese Verzerrung reagieren. Karl Bühler, Gestaltpsychologe und Leiter des psychologischen Instituts an der Universität Wien, weckte Kris’ Interesse an der wissenschaftlichen Analyse von Gesichtsausdrücken. Diese Arbeitsbereiche bildeten die Grundlage für seinen ersten Versuch, die kunsthistorische Ausbildung mit seinen psychoanalytischen Erkenntnissen zu verknüpfen. In zwei Studien, die 1932 und 1933 veröffentlicht wurden, untersuchte Kris die übertrieben dargestellten Gesichtsausdrücke der bemerkenswerten »Charakterköpfe«, die Franz Xaver Messerschmidt in den 1780er-Jahren gestaltet hatte. Die Werke dieses begnadeten Porträtbildhauers waren um 1900 im Unteren Belvedere in Wien ausgestellt worden und hatten Kokoschka und Schiele höchstwahrscheinlich bei ihrem Durchbruch zum Expressionismus beeinflusst.
    Im Jahre 1760, als Messerschmidt erst 24 Jahre alt war, konnte er als Künstler am kaiserlichen Hof von Wien bereits beträchtliche Erfolge verbuchen. Man bat ihn, Bronzebüsten von Kaiserin Maria Theresia und anderen bedeutenden Persönlichkeiten anzufertigen. Bei diesen frühen Porträts unterstrich Messerschmidt im typischen Stil des Barock die aristokratische Herkunft und vornehme Erscheinung seiner Modelle. 1765 reiste er nach Rom, wo sich sein Stil mehr in eine klassizistische Richtung zu entwickeln begann. Nach Wien zurückgekehrt, wurde der Stil schlichter – er verzichtete auf Draperie, gestaltete die Köpfe einfacher und geradliniger und idealisierte die Gesichter nicht mehr. Eine Zeitlang lebte er im Haus von Franz Anton Mesmer, der psychische Störungen mit Hypnose behandelte und die Saat für Messerschmidts späteres Interesse an der Psyche legte.
    Als hoch angesehener und versierter Substitutsprofessor für Bildhauerei an der Kaiserlichen Akademie Wien teilte er die allgemeine Erwartung, dass man ihm die Stelle des leitenden Professors für Bildhauerei nach dem Tode des derzeitigen Leiters anbieten werde. Als es so weit war, wurde Messerschmidt jedoch übergangen. Er verlor sogar seine Dozentenstelle – möglicherweise weil die Entscheidungsträger befürchteten, er sei noch nicht von einer drei Jahre zuvor aufgetretenen Geisteskrankheit genesen, die man später für eine paranoide Form der Schizophrenie hielt. Tief verletzt von dieser Zurückweisung, verließ Messerschmidt Wien im Jahre 1775 und ließ sich 1777 schließlich in Pressburg (dem heutigen Bratislava) nieder. Dort widmete er sich ganz der Gestaltung von über 60 bronzenen Charakterköpfen, indem er seine Gesichtsausdrücke in einem Spiegel betrachtete und seine entsprechenden geistigen Zustände – vielleicht auch die anderer Personen – auf die

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