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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Büsten übertrug. Diese außergewöhnlichen Köpfe stellen dramatische, verzerrte und zuweilen exaltierte Mienen zur Schau, die ganz unterschiedliche Emotionen ausdrücken (Abb. 11-4 und Abb. 11-5).

    Abb. 11-4.
Franz Xaver Messerschmidt,
Der Gähner (nach 1770).
Blei.
    Die Köpfe faszinierten Kris. Sie zeigten ihm, dass ein Mensch mit anscheinend paranoiden Zügen nichtsdestoweniger ein großartiges Kunstwerk schaffen konnte. Ganz offensichtlich schränkten Messerschmidts innere Kämpfe seine Fantasie nicht ein – die während seiner Krankheit entstandenen Charakterköpfe verraten sogar noch mehr Originalität als die exzellenten Arbeiten, die er davor erstellte. Überdies sind die Köpfe wunderbar modelliert, was beweist, dass Messerschmidts großartige Technik durch sein Leiden nicht beeinträchtigt wurde.

    Abb. 11-5.
Franz Xaver Messerschmidt,
Ein Erzbösewicht (nach 1770).
Zinn-Blei-Legierung.
    Nach Ansicht von Kris stellte die Emotionalität der Köpfe sofort eine Verbindung zu den Betrachtern her und vermittelte ihnen bewusste wie auch unbewusste Botschaften über den psychotischen Zustand des Künstlers – sein zwanghaftes Ausloten paranoider Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Es beeindruckte Kris, dass die fantasievollsten, exaltiertesten Köpfe stilistisch am ausgereiftesten waren, die weniger exaltierten dagegen am konventionellsten. Diese Beobachtung bestärkte ihn in seiner Überzeugung, dass Karikaturen in der Lage sind, Gefühle zu übermitteln und die im Gehirn ablaufenden perzeptuellen und empathischen Prozesse zu beeinflussen.
    80 Jahre nach Kris’ Studie über Messerschmidt verfasste Donald Kuspit, Professor für Kunstgeschichte und Philosophie an der State University of New York in Stony Brook, eine Rezension über eine Messerschmidt-Retrospektive, die 2010 in der Zeitschrift Artnet erschien. Der Artikel trug den Titel »A Little Madness Goes a Long Creative Way« – frei übersetzt »Tollheit auf schöpferischen Umwegen«. Kuspit beruft sich auf Kris’ bahnbrechende Ideen und stellt Messerschmidts Werk in den Kontext des 21. Jahrhunderts. Er schreibt:
    Sein [Messerschmidts] Wahnsinn erwies sich als merkwürdig befreiend. Als er das kosmopolitische Wien verlassen hatte und in seine provinzielle Heimatstadt zurückgekehrt war, wurde seine Kunst authentisch – Kunst, die so verrückt war wie er selbst. … Beim Modellieren seines irren Gesichts … wurde er zu seinem wahren Selbst. Seine Dämonen waren nun seine Musen, und er holte das Beste aus ihnen heraus, indem er sie porträtierte. Er konnte gar nicht anders, weil sie ihn immer wieder aus seinem Spiegel heraus anblickten. … Messerschmidt fand Gefallen an seiner Verrücktheit, was er sich bislang bei dem qualvollen Aufstieg zum gesellschaftlichen Olymp der Kunst versagt hatte. 126
    INDEM KRIS DEN SCHÖPFERISCHEN ASPEKT im Anteil des Beschauers hervorhob, erkannte er nicht nur an, dass Gemeinsamkeiten in der Kreativität von Künstlern und Rezipienten bestehen, sondern – implizit – auch in der Kreativität von Künstlern und Wissenschaftlern. Wie Kokoschka verstand Kris, dass figurative Malerei ein Modell der Wirklichkeit (oder, bei einem Porträt, ein Modell einer Person) schafft, das sich aus einem Forschungs- und Entdeckungsprozess entwickelt. Ganz ähnlich verhält sich die Wissenschaft – ob in der Kognitionspsychologie oder in der Biologie. Gombrich bezeichnete diesen Forschungsprozess später als »visuelle Entdeckungen durch die Kunst«. 127
    Als Kris 1931 mit seiner ersten Studie über Messerschmidt begann, lernte er Ernst Gombrich (Abb. 11-6) kennen, der gerade in Kunstgeschichte promoviert hatte und später zu einem der einflussreichsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts werden sollte. Wie sich bald herausstellte, teilte Kris mit Gombrich die von Riegl geäußerte Sorge, zeitgenössische Kunsthistoriker wüssten zu wenig über die tieferen Strukturen der Kunst, um zu irgendwelchen gültigen Schlussfolgerungen zu gelangen. So bestärkte er Gombrich nachdrücklich darin, psychologische Überlegungen in seine Arbeit einzubeziehen. Gombrich fand Kris’ Ansatz ausgesprochen überzeugend und betonte in späteren Jahren mehrfach, dass Kris ihm mehr als jeder andere den Weg zur Psychologie der Wahrnehmung gewiesen habe – zu dem Bereich also, dem Gombrich den Rest seiner äußerst produktiven Laufbahn widmete.

    Abb. 11-6.
Ernst Gombrich (1909–2001).
Als ehemaliger Student von Ernst Kris wurde Gombrich
Professor für

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