Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Kunstgeschichte an der Universität London.
Er war einer der ersten Kunsthistoriker, der Kunst
mithilfe der Gestaltpsychologie und der Kognitionspsychologie
der Wahrnehmung analysierte.
Kris lud Gombrich ein, gemeinsam mit ihm ein Buch über Psychologie und die Geschichte der Karikatur zu schreiben. 1936 bat er ihn auch um Mithilfe bei der Organisation einer größeren Ausstellung mit Karikaturen von Honoré Daumier, dem Grafiker, Maler und Bildhauer aus dem 19. Jahrhundert.
Im Laufe ihrer Zusammenarbeit begannen Kris und Gombrich, die expressionistische Malerei als Gegenbewegung zur konventionellen Abbildung von Gesichtern und Körpern zu verstehen. Der neue Stil war aus der Verknüpfung von zwei traditionellen Maltechniken hervorgegangen – der von den Manieristen abgeleiteten »Hohen Kunst« (als Teil der Hochkultur) und der Karikatur, deren Mitbegründer Ende des 16. Jahrhunderts Agostino Carracci war. Der Manierist Carracci arbeitete mit Verzerrung und Übertreibung, um charakteristische Merkmale hervorzuheben (Abb. 11-7). Später stellte Gian Lorenzo Bernini, ein römischer Architekt und Bildhauer, die Karikatur auf eine neue Ebene. So schreiben Gombrich und Kris in einem unveröffentlichten Manuskript, das sie später in ihrem Buch Caricature weiter ausarbeiteten:
In Berninis Zeichnungen lag der Schwerpunkt nicht auf Variationen körperlicher Merkmale, sondern allein auf dem Gesicht und der Stimmigkeit des Gesichtsausdrucks. … Statt hervorstechende körperliche Züge herauszusuchen und übertrieben darzustellen, … geht Bernini vom Ganzen und nicht von seinen Bestandteilen aus. Er vermittelt das Bild, das vor unserem inneren Auge ersteht, wenn wir uns an jemanden zu erinnern versuchen, den Gesamtausdruck des Gesichts – und diesen Ausdruck verzerrt und verstärkt er. 128
Wie wir noch sehen werden, ist diese ganzheitliche Sichtweise ein Prinzip der Gestalttheorie, das Bernini intuitiv erfasst hatte.
Gombrich und Kris waren über das späte Aufkommen der Karikatur in der Kunstgeschichte erstaunt. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Entstehung der Karikatur mit einem dramatischen Wandel der Rolle des Künstlers und seiner Position in der Gesellschaft zusammengefallen sei. Ende des 16. Jahrhunderts konzentrierte sich der Künstler nicht mehr auf die Vervollkommnung der Techniken, die er zur Darstellung der Realität benötigte. Er war kein Handwerker mehr, sondern ein Schöpfer. Innerhalb der Gesellschaft bekleidete er nun eine Position, die mit der eines Dichters vergleichbar war, der seine eigene Wirklichkeit erschaffen konnte. Dieser Wandel offenbart sich erstmals in Michelangelos unvollendeten Marmorblöcken von 1500, bei denen die Skulptur gleichsam aus dem Stein hervortritt. Noch häufiger begegnen wir ihm in Leonardos und Tizians Versuchen, die Kraft der Ölfarbe auf die Leinwand zu bannen. Und schließlich wird uns die zentrale Rolle des Künstlers 1656 mit Las Meninas von Velázquez unmissverständlich vor Augen geführt (Abb. 24-2). Wie Gombrich schreibt, gipfelt dieser Rollenwechsel im Versuch der Expressionisten, die Kunst zum Spiegel der bewussten oder unbewussten Empfindungen des Künstlers zu machen.
Mit der Unterstützung von Kris entwickelte Gombrich allmählich einen mehrgleisigen Ansatz zur Analyse von Kunst, indem er Erkenntnisse aus der Psychoanalyse, der Gestaltpsychologie und der Prüfung wissenschaftlicher Hypothesen kombinierte. Seine psychoanalytischen Einsichten verdankte Gombrich Ernst Kris; der gestaltpsychologische Einfluss kam ursprünglich von Karl Bühler, und die Idee, Wahrnehmung als Hypothesenprüfung zu verstehen, von Hermann von Helmholtz und Karl Popper, worauf wir noch zurückkommen.
122 Schorske, C. E., Wien: Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle , Frankfurt am Main 1982, S. 222.
123 Meyer Schapiro zitiert nach Persinger, C., »Reconsidering Meyer Schapiro in the New Vienna School«, The Journal of Art Historiography 3 (2010), S. 1.
124 Arnheim, R., »Art History and the Partial God«, Art Bulletin 44 (1962), S. 75.
125 Empson, W., Seven Types of Ambiguity , New York 1930, S. X.
126 Kuspit, D., »A Little Madness Goes a Long Creative Way«, Artnet ,7. Oktober 2010, http://www.artnet.com/magazineus/features/kuspit/franz-xaver-messerschmidt10-7-10.asp (aufgerufen am 16. September 2011).
127 Gombrich, E. H., »Visuelle Entdeckungen durch die Kunst«, in: Bild und Auge: Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung , übers. von L. Gombrich,
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