Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Stuttgart 1984, S. 11.
128 Kris, E. und E. H. Gombrich, »Caricature« (unveröffentl. Manuskript), Eigentum des Archive of E. H. Gombrich Estate at the Warburg Institute, London. © Literary Estate of E. H. Gombrich. Zitiert in Rose, L., »Psychology, Art, and Antifascism: Ernst Kris, E. H. Gombrich, and the Politics of Caricature« (unveröffentl. Manuskript), 2011.
Abb. 11-7.
Agostino Carracci, Karikatur von Rabbatin de Griffi und seiner Frau Spilla Pomina .
Tusche auf Papier.
KAPITEL 12
BETRACHTEN BEDEUTET ERFINDEN: DAS GEHIRN ALS KREATIVITÄTSMASCHINE
D as Gehirn als eine Kreativitätsmaschine zu sehen, die zur Rekonstruktion der Außenwelt fortwährend Schlussfolgerungen und Vermutungen anstellt – was der Auffassung von Ernst Kris und Ernst Gombrich entsprach –, bedeutete eine rigorose Abkehr von dem naiven philosophischen Realismus, den der britische Philosoph John Locke im 17. Jahrhundert vertrat und der die Vorstellungen vom menschlichen Geist zu jener Zeit prägte. Locke glaubte, der Geist empfange sämtliche verfügbare Informationen über die Sinnesorgane, was bedeuten würde, dass er einfach die Wirklichkeit der Außenwelt widerspiegelt. Die von Kris und Gombrich vertretene Sichtweise war dagegen eine moderne Version von Kants Theorie, dass sensorische Informationen dem Geist ermöglichen, die Wirklichkeit zu erfinden.
Die Bilder in der Kunst repräsentieren, wie alle Bilder, weniger die Wirklichkeit als vielmehr die Wahrnehmungen, Fantasien und Erwartungen ihrer Betrachter sowie deren Wissen über andere Bilder – Bilder, an die sie sich erinnern. Damit die Betrachter erkennen, was tatsächlich auf eine Leinwand gemalt wurde, müssen sie, laut Gombrich, bereits im Vorhinein wissen, was sie in dem Gemälde sehen könnten. Insofern entspricht der kreative Prozess im Gehirn des Künstlers – das Modellieren der physischen und psychischen Wirklichkeit – den von Natur aus kreativen Leistungen, die jedes menschliche Gehirn im täglichen Leben vollbringt.
Indem Kris und Gombrich die Kunstgeschichte mit den intuitiven Ideen aus der Psychoanalyse, dem strikteren Denken der Gestaltpsychologie sowie dem Prüfen unbewusster und bewusster Schlussfolgerungen in Verbindung brachten, legten sie den Grundstein für eine kognitive Psychologie der Kunst. Überdies erkannten sie: Da Kunst zum Teil eine Schöpfung des menschlichen Geistes ist und der menschliche Geist eine Abfolge von Funktionen, die das Gehirn ausführt, muss eine wissenschaftliche Betrachtung der Kunst auch die Neurowissenschaft und die Kognitionspsychologie berücksichtigen.
Gombrich, Kris und Riegl gelangen entscheidende Schritte zur Verwirklichung dieses Prinzips. Den ersten Schritt tat Riegl, indem er die Wissenschaft der Psychologie auf das Studium der Kunst anwandte und so den Anteil des Betrachters erkannte. Kris vollbrachte einen weiteren Schritt, als ihm klar wurde, dass Kunst eine Form der unbewussten Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter ist und dass der Betrachter auf die einem Kunstwerk innewohnende Mehrdeutigkeit reagiert, indem er das Bild in seinem Kopf unbewusst neu erschafft. Gombrich ging noch weiter – er richtete den Blick auf die Kreativität der visuellen Wahrnehmung und analysierte die Art und Weise, wie die Betrachter eines Kunstwerks Prinzipien der Gestalttheorie mit der Überprüfung von Hypothesen kombinieren. Gemeinsam vermittelten uns Kris und Gombrich mit ihren Erkenntnissen, dass Kunst das Gehirn ihrer Betrachter über Wahrnehmung und Emotionen ganz bewusst zu einem Prozess der Neuschöpfung anregen will. Die beiden Kunsthistoriker knüpften gewissermaßen an Freuds Versuch an, eine Kognitionspsychologie zu begründen, die die Psychologie geistiger Prozesse mit der Biologie des Geistes verbinden konnte.
Kris und Gombrich erkannten: Die von ihnen entwickelte Kognitionspsychologie eignete sich auch hervorragend dazu, sowohl das Verhalten von Individuen – den Anteil des Betrachters – zu erklären als auch die biologischen Prozesse im Gehirn, die dieses Verhalten befördern. Sie sahen voraus, dass eine solche auf empirische Grundlagen gestützte Psychologie irgendwann als Fundament für einen Dialog zwischen Kunst und der Biologie der Wahrnehmung, Emotion und Empathie würde dienen können.
Der Geistesphilosoph John Searle hat auf den dreistufigen Prozess hingewiesen, den wir durchlaufen müssen, um ein biologisches Verständnis der perzeptuellen und emotionalen Erfahrungen zu entwickeln, auf
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