Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
Vom Netzwerk:
oder ein Kaninchen, aber niemals beides zugleich.
    Wie Gombrich erkannte, liegt dieses Prinzip all unseren Wahrnehmungen der Welt zugrunde. Der Akt des Sehens, so Gombrich, beruht im Wesentlichen auf Interpretation. Statt das Bild zu sehen und es dann bewusst als Ente oder Kaninchen zu identifizieren, interpretieren wir es unbewusst, sobald wir es sehen. Die Interpretation ist also ein untrennbarer Bestandteil der visuellen Wahrnehmung.

    Abb. 12-3.
Die Rubin’sche Vase.
    Die 1920 von dem dänischen Psychologen Edgar Rubin entworfene Rubin’sche Vase (Abb. 12-3) ist ein weiteres Beispiel für ein solches »Kippbild«, bei dem die Wahrnehmung aufgrund unbewusster Schlussfolgerungen zwischen zwei konkurrierenden Interpretationen wechselt. Im Gegensatz zur Kaninchen-Ente-Illusion muss das Gehirn bei der Rubin’schen Vase jedoch ein Bild konstruieren, indem es ein Objekt (Figur) von seinem Hintergrund (Grund) unterscheidet. Außerdem muss es dem Umriss oder der Kontur auf der Grenze zwischen Figur und Grund einen »Besitzer« zuschreiben. Wenn das Gehirn demzufolge die Kontur als der Vase zugehörig erkennt, sehen wir die Vase, und wenn es sie den Gesichtern zuerkennt, sehen wir die Gesichter. Laut Rubin funktioniert die Illusion, weil die Konturen der Vase den Konturen der Gesichter entsprechen und so die Betrachter zwingen, sich für eine Deutung zu entscheiden.

    Abb. 12-4.
Der Necker-Würfel.
    Vor eine komplexere Wahl zwischen konkurrierenden Interpretationen stellt uns der Necker-Würfel (Abb. 12-4), der 1832 von dem Schweizer Kristallografen Louis Albert Necker entdeckt wurde. Der Necker-Würfel ist eine zweidimensionale Strichzeichnung in Schrägperspektive ohne Tiefenhinweise, erscheint jedoch dreidimensional. Verblüffenderweise lassen sich beide quadratischen Flächen als Vorderseite wahrnehmen. Betrachtet man die Zeichnung konzentriert, scheint die Perspektive spontan zwischen den zwei Deutungsmöglichkeiten zu wechseln. Der Necker-Würfel ist ein schönes Beispiel für die große Kreativität des Sehsystems. Obwohl wir abwechselnd zwei Würfel erkennen, haben wir in Wirklichkeit überhaupt keinen Würfel vor uns, sondern nur eine einzige zweidimensionale Zeichnung auf Papier. Wir sehen etwas, das gar nicht da ist. Gombrichs Beschäftigung mit optischen Illusionen brachte ihn zu dem Schluss, »daß zwischen Wahrnehmung und Illusion keine scharfe Trennung möglich ist«. 134 Überdies sind die beiden Ausrichtungen des Würfels, zwischen denen wir hin- und herwechseln, keineswegs die einzigen möglichen Deutungen. Tatsächlich lassen sich in dem Bild theoretisch zahllose unregelmäßige Vielecke erkennen. Doch wie sehr wir uns auch bemühen würden – wir könnten sie nicht wahrnehmen, selbst wenn wir wollten. Das zeigt uns Folgendes: Obwohl uns Top-down-Schlussfolgerungen erlauben, zwischen verschiedenen Deutungen zu wählen, schränkt die unbewusste Selektion unsere Wahlmöglichkeiten auf die plausibelsten Interpretationen ein.
    Von diesen drei mehrdeutigen Figuren und optischen Illusionen verdeutlicht der Necker-Würfel am besten die Fähigkeit des Gehirns, ein dreidimensionales Bild aus einem zweidimensionalen Objekt abzuleiten. Diese bemerkenswerte Fähigkeit, die die Künstler so brillant zu nutzen gelernt haben, beruht auf der Tatsache, dass das Gehirn Komponenten der zweidimensionalen Zeichnung auf dem Papier mit zuvor im Gehirn gespeichertem Wissen und unseren Erwartungen über eine dreidimensionale Welt abgleicht.

    Abb. 12-5.
Das Kanizsa-Dreieck.
    Das Kanizsa-Dreieck (Abb. 12-5) liefert uns ein weiteres Beispiel dafür, dass das Sehsystem eine nicht vorhandene Wirklichkeit konstruiert. Bei dieser optischen Illusion, die 1950 von dem italienischen Künstler und Psychologen Gaetano Kanizsa geschaffen wurde, erzeugt unser Gehirn die Abbildung von zwei einander überlappenden Dreiecken. Die scheinbaren Konturen dieser Dreiecke sind jedoch pure Einbildung. Es gibt keine Dreiecke in dem Bild, nur drei offene Winkel und drei Kreisausschnitte. Doch wenn das Gehirn diese sensorische Information zu einer Wahrnehmung verarbeitet, wird eine dreieckige schwarze Fläche sichtbar, die den weißen Umriss eines darunterliegenden zweiten Dreiecks teilweise verdeckt. Das Gehirn erzeugt dieses Bild mithilfe der von Helmholtz beschriebenen unbewussten Schlussfolgerungen, weil es darauf ausgelegt ist, solche Muster als Dreiecke zu interpretieren. Demzufolge ist der Eindruck, ein Dreieck wahrzunehmen, so übermächtig,

Weitere Kostenlose Bücher