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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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denen der Anteil der Betrachter von Kunst beruht (Abb. 12-1). Erstens müssen wir das Verhalten von Betrachtern analysieren, die erkennbar auf ein Kunstwerk reagieren. Zweitens müssen wir die perzeptuellen, emotionalen und empathischen Reaktionen der Betrachter auf das Kunstwerk psychologisch analysieren. Drittens müssen wir die im Gehirn der Betrachter ablaufenden Mechanismen untersuchen, die diesen Reaktionen zugrunde liegen. Tatsächlich repräsentiert die neue Wissenschaft des Geistes, die in den letzten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts entstand, die erfolgreiche Zusammenführung von Kognitionspsychologie (der Wissenschaft des Geistes) und Neurowissenschaft (der Wissenschaft des Gehirns).

    Abb. 12-1.
Diese Analyse des Betrachterverhaltens nach Kris, Gombrich und Searle zeigt, dass die biologische Analyse der an Wahrnehmung und Emotionen beteiligten Gehirnmechanismen einen wichtigen Zwischenschritt erfordert – eine Analyse der Repräsentation von Wahrnehmung und Emotionen aus kognitionspsychologischer Sicht.
    Gombrich entwickelte ein wachsendes Interesse an der visuellen Wahrnehmung; bald faszinierten ihn auch Ernst Kris’ Ideen über die Mehrdeutigkeit in der Kunst, und er begann die mehrdeutigen Figuren und optischen Täuschungen zu untersuchen, denen die Gestaltpsychologen zu Berühmtheit verholfen hatten. In ihren schlichtesten Versionen lassen die optischen Illusionen zwei ganz verschiedene Deutungen eines Bildes zu. Sie sind das einfachste Beispiel für Mehrdeutigkeit, die in Kris’ Augen der Schlüssel zu allen großen Kunstwerken und zu den jeweiligen Reaktionen ihrer Betrachter war. Andere Illusionen bestehen in mehrdeutigen Bildern, die das Gehirn zu »optischen Täuschungen« verleiten. Mithilfe dieser Täuschungen erforschten die Gestaltpsychologen die kognitiven Aspekte der visuellen Wahrnehmung. Dabei schlossen sie auf mehrere Prinzipien, nach denen das Gehirn die Wahrnehmungsprozesse strukturiert, bevor die Neurowissenschaftler diese entdeckten.
    Solche mehrdeutigen Figuren und Illusionen faszinierten Gombrich, weil man auch beim Betrachten eines Porträts oder einer Szene zwischen mehreren Deutungen wählen kann. Große Kunstwerke bergen häufig einige Mehrdeutigkeiten und jede davon fordert den Betrachtern möglicherweise eine Reihe von Entscheidungen ab.
    Gombrich interessierte sich vor allem für diejenigen mehrdeutigen Figuren und optischen Täuschungen, die die Wahrnehmung zwischen zwei einander ausschließenden Interpretationen hin- und herspringen lassen. Zu ihnen gehört die Zeichnung eines Enten-Kaninchens (Abb. 12-2), die der amerikanische Psychologe Joseph Jastrow 1892 schuf; Gombrich präsentierte sie gleich auf den ersten Seiten von Kunst und Illusion . Weil die Menge an Informationen, die sich bewusst verarbeiten lässt, sehr begrenzt ist, kann man niemals beide Tiere gleichzeitig sehen – entweder erblickt man ein Kaninchen mit langen Ohren, oder man deutet die »Ohren« als Schnabel und sieht eine Ente. Wir können den Wechsel zwischen Kaninchen und Ente hervorrufen, indem wir die Augen hin- und herbewegen, aber diese Augenbewegung ist für das Phänomen nicht entscheidend.

    Abb. 12-2.
Enten-Kaninchen.
    Was Gombrich an der Zeichnung so sehr beeindruckte, war, dass sich die visuellen Informationen auf dem Blatt nicht verändern. Es verändert sich nur unsere Interpretation dieser Informationen. »Wir können [das Bild] entweder als Kaninchen oder als Ente sehen«, schrieb er. »Keine der beiden Auslegungen bereitet Schwierigkeiten. Viel schwieriger ist es allerdings, zu beschreiben, was vorgeht, wenn wir von der einen Sehweise zur anderen hinüberwechseln.« 133 Was geschieht, ist Folgendes: Wir sehen das mehrdeutige Bild und folgern aufgrund unserer Erwartungen und früheren Erfahrungen unbewusst, dass dort ein Kaninchen oder eine Ente abgebildet ist. Dies ist der von Helmholtz beschriebene Top-down-Prozess der Hypothesenprüfung. Haben wir erst einmal eine erfolgreiche Hypothese über das Bild formuliert, erklärt diese nicht nur die visuellen Daten, sondern schließt auch Alternativen aus. Sobald wir also in dem Bild eine Ente erkennen, haben wir uns auf die Hypothese »Ente« festgelegt, und die Hypothese »Kaninchen« ist sozusagen vom Tisch. Dass die zwei Wahrnehmungsobjekte einander ausschließen, hat folgenden Grund: Ist eines der Bilder dominant, dann bedarf es keiner weiteren Erklärung, dann gibt es keine Mehrdeutigkeit . Das Bild stellt entweder eine Ente dar

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