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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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dass es dunkler als der Hintergrund des Bildes zu sein scheint, selbst wenn wir wissen, dass das nicht stimmt.
    ALS SICH GOMBRICH EINGEHENDER MIT DEN IDEEN der Gestalttheoretiker auseinandersetzte, ging ihm auf, dass beim Reagieren auf ein Kunstwerk nicht nur Bottom-up-Prozesse ablaufen, in denen das Gehirn visuelle kontextgebundene Informationen nutzt, sondern auch Top-down-Prozesse, bei denen es sich auf emotionale und kognitive Informationen sowie das Gedächtnis stützt. Und es ist dieser Rückgriff auf kognitive Informationen und Erinnerungen, der den ganz individuellen Beitrag jedes einzelnen Betrachters ausmacht. Gombrich erkannte, dass die von Künstlern im Laufe der Jahrhunderte durchgeführten Experimente unzählige wertvolle Hinweise auf die verborgenen Funktionsweisen des menschlichen Geistes lieferten. Er hob die Rolle der kognitiven Schemata , oder inneren Repräsentationen der visuellen Welt im Gehirn, hervor und behauptete, die Interpretation eines Gemäldes werde stärker von anderen Gemälden, die der Betrachter bereits gesehen hat, beeinflusst als von der realen Welt, die es abbildet.
    Zu dieser Sicht auf die Kunst, die das Prüfen von Hypothesen und das Gedächtnis betonte – und somit die vorhandenen Kenntnisse der Betrachter und Künstler über andere Kunstwerke –, passte die von dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky entwickelte Theorie der ästhetischen Wirkung. Panofsky wurde in Deutschland geboren und emigrierte 1934 in die Vereinigten Staaten. Als Zeitgenosse von Kris und Gombrich unterstrich er die Bedeutung, die das Gedächtnis für die ästhetische Wirkung hat. Laut Panofsky kann man Kunst auf drei Ebenen aufnehmen und ikonografisch interpretieren; alle drei Ebenen sind vom Gedächtnis der Rezipienten abhängig.
    Die erste Ebene ist die vorikonografische Interpretation , die sich mit den Grundelementen des Gemäldes befasst, wie Linien, Farben, Formen, Motiven und Stimmungen. Auf dieser Ebene beruht die Interpretation der Betrachter auf der praktischen, intuitiven Erfahrung der Elemente, ohne irgendein faktisches oder kulturelles Wissen vorauszusetzen. Die zweite Ebene ist die ikonografische Interpretation, die die Bedeutung der Formen und ihren Ausdruck in universellen Bezugsrahmen betrifft. Die dritte Ebene ist die ikonologische Interpretation ; diese umfasst die ästhetische Wirkung vor dem Hintergrund des spezifischeren kulturellen Kontextes von Land, Kultur, gesellschaftlicher Schicht, Religion und geschichtlicher Epoche. So erkennen die meisten abendländischen Betrachter in einer Gruppe von zwölf Personen an einer langen Tafel mit einer Person in der Mitte eine Darstellung des letzten Abendmahls. Sie interpretieren die Abbildung von zwölf Personen beim Abendessen ikonologisch (vor einem spezifischen kulturellen Hintergrund), wohingegen Betrachter mit einem anderen kulturellen Hintergrund dieselbe Abbildung ikonografisch (in einem universellen kulturellen Kontext) interpretieren.
    Panofskys Ideen, mit denen er Symbole, kulturelle Kontexte und die persönlichen Erinnerungen der Betrachter in den Vordergrund rückte, verliehen der Kunstforschung eine größere Prägnanz, als es die Gestaltpsychologie allein vermocht hätte. Die ikonografische Interpretation offenbarte, dass die Kunst im Laufe der Geschichte anhand von Symbolen und Mythen universelle Vorstellungen übermittelt und so die kreative Partnerschaft zwischen Künstler und Betrachter um eine weitere Dimension bereichert hat.
    Die moderne Kognitionspsychologie, die sich erst in den Jahrzehnten nach der Kooperation von Kris und Gombrich richtig entwickelte, befasst sich weiterhin mit der Analyse des Prozesses, über den sensorische Informationen vom Betrachter in Wahrnehmung, Emotion, Empathie und Handlung umgewandelt werden – sie untersucht also, anders gesagt, wie ein Sinnesreiz in einem ganz bestimmten historischen Kontext ganz bestimmte Wahrnehmungen, Gefühle und Verhaltensweisen bewirkt. Erst wenn wir aufdecken, wie diese Umwandlung vor sich geht, verstehen wir vielleicht irgendwann die Beziehung zwischen dem Verhalten eines Menschen und dem, was dieser Mensch sieht, glaubt oder woran er sich erinnert.
    133 Gombrich, E. H., Kunst und Illusion: Zur Psychologie der bildlichen Darstellung , übers. von L. Gombrich, Zürich 1978, S. 21.
    134 Gombrich, Kunst und Illusion , S. 45.

KAPITEL 13
    DER WEG ZUR MALEREI DES 20. JAHRHUNDERTS
    D ie österreichischen Expressionisten analysierten sexuelle Urtriebe, tiefe Ängste und

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