Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
wahrgenommenen Bild rekonstruiert und weiterverarbeitet. Obwohl die vom Auge aufgenommenen Rohdaten nicht ausreichen, um die inhaltsreiche Hypothese zu bilden, die wir Sehen nennen, produziert das Gehirn zu unserem Glück eine bemerkenswert präzise Hypothese. So sind wir in der Lage, ein aussagekräftiges, sinnvolles Bild der Außenwelt zu erzeugen, das dem von anderen Personen erzeugten Bild auf beeindruckende Weise ähnelt.
Im Aufbau dieser inneren Repräsentationen der sichtbaren Welt erkennen wir die kreative Arbeitsweise des Gehirns. Das Auge funktioniert nicht wie eine Kamera. Eine Digitalkamera erfasst ein Bild, ob Landschaft oder Gesicht, Pixel für Pixel so, wie es vor uns erscheint. Das Auge ist dazu nicht in der Lage. Vielmehr geschieht das, was der Kognitionspsychologe Chris Frith so beschreibt: »Was ich wahrnehme, sind nicht die kruden und mehrdeutigen Reize, die von der Außenwelt auf meine Augen, meine Ohren oder meine Finger treffen. Ich nehme etwas viel Reichhaltigeres wahr – ein Bild, das all diese kruden Signale mit einer Fülle vergangener Erfahrungen kombiniert. … Unsere Wahrnehmung der Welt ist eine Fantasie, die mit der Realität in Einklang steht.« 139
WIE ERSCHAFFT DAS SEHSYSTEM DIESE WELT, diese »Fantasie, die mit der Realität in Einklang steht«? Ein Leitprinzip der Hirnorganisation lautet, dass jeder geistige Prozess – perzeptueller, emotionaler oder motorischer Art – von ganz unterschiedlichen Gruppen spezialisierter neuronaler Schaltkreise abhängt, die hierarchisch geordnet in spezifischen Hirnregionen angesiedelt sind. Dies trifft auch auf das Sehsystem zu.
Die Nervenzellen, die die visuellen Informationen verarbeiten, sind gruppenweise zu hierarchischen Relais angeordnet; diese senden die Informationen eine von zwei parallelen Bahnen im Sehsystem entlang. Die Relais findet man zuerst in der Netzhaut des Auges, danach im seitlichen Kniehöcker des Thalamus, darauf in der primären Sehrinde im Okzipitallappen und schließlich in etwa 30 weiteren Arealen im Okzipital-, Temporal- und Frontallappen der Großhirnrinde. Jedes Relais führt einen bestimmten Transformationsprozess bei der ankommenden Information durch. Die Relais des Sehsystems unterscheiden sich von denjenigen, die Informationen über das Fühlen, Hören, Schmecken und Riechen verarbeiten, und sie besetzen ihre eigenen, ganz spezifischen Hirnareale. Erst auf der allerhöchsten Ebene des Gehirns werden die Informationen aus den verschiedenen sensorischen Systemen zusammengeführt.
Die beiden unterschiedlichen Bahnen im Sehsystem analysieren verschiedene Aspekte der sichtbaren Welt. Die »Was«-Bahn ist zuständig für Farbe und für die Frage, welche Objekte in der Welt zu sehen sind. Die Relais auf dieser Bahn senden Informationen zu Arealen im Temporallappen, die sich mit Farb-, Objekt-, Körper- und Gesichtserkennung befassen. Die »Wo«-Bahn beschäftigt sich mit der Frage, wo die betreffenden Objekte aufzufinden sind; ihre Relais senden Informationen zum Parietallappen. Demzufolge besteht jede Bahn aus einer Abfolge hierarchisch angeordneter Relais, die visuelle Informationen empfangen, verarbeiten und zum nächsten Relais weiterleiten. Die Zellen in jedem einzelnen Relais sind mit Zellen im jeweils nächsten Relais verbunden und ergeben so das Datennetz des Sehsystems.
Sobald die Informationen die höheren Ebenen der Was-Bahn erreichen, werden sie neu bewertet. Diese Top-down-Neubewertung beruht auf vier Prinzipien: Sie ignoriert Details, die in einem gegebenen Kontext für das Verhalten irrelevant sind; sie sucht nach Konstanz; sie versucht, die wesentlichen, konstanten Merkmale von Objekten, Personen und Landschaften zu extrahieren; und was besonders wichtig ist, sie vergleicht das aktuelle Bild mit aus der Vergangenheit bekannten Bildern. Diese biologischen Erkenntnisse bestätigen die Schlussfolgerung von Kris und Gombrich, dass Sehen nicht einfach ein Fenster zur Welt ist, sondern wahrhaftig eine Schöpfung des Gehirns.
DIE KREATIVITÄT DES GEHIRNS OFFENBART sich in der Fähigkeit des Sehsystems, selbst bei völlig unterschiedlichen Lichtverhältnissen und Entfernungen ein Bild als identisch mit einem anderen Bild zu erkennen. Gehen wir zum Beispiel aus einem sonnendurchfluteten Garten in ein dämmriges Zimmer, verringert sich die Intensität des Lichts, das auf die Netzhaut fällt, möglicherweise um das Tausendfache. Und doch nehmen wir sowohl im dämmrigen Licht des Zimmers als auch im
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