Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Gehirne«. Im Jahre 1997 waren Computer bereits so leistungsfähig, dass Deep Blue, ein von IBM entwickelter Schachcomputer, Garri Kasparow schlagen konnte, der als weltbester Schachspieler galt. Doch zur Verblüffung der Informatiker hatte Deep Blue, der problemlos Regeln, Logik und Berechnungen des Schachspiels gelernt hatte, große Schwierigkeiten, die Prinzipien der Gesichtserkennung zu erlernen, und war nicht in der Lage, zwischen Gesichtern zu unterscheiden. Dies gilt nach wie vor auch für die leistungsstärksten Computer der heutigen Zeit. Computer können besser als das menschliche Gehirn große Datenmengen verarbeiten und nutzen, aber unserem Sehsystem sind sie hoffnungslos unterlegen, was dessen Kreativität sowie die Fähigkeit zum Prüfen von Hypothesen und Schlussfolgern betrifft.
WIE VOLLBRINGT DIE VISUELLE WAHRNEHMUNG ihre analytischen Großtaten? Richard Gregory stellte die Frage: »Ist das Sehsystem ein Bilderbuch? Gibt es im Gehirn ein baumähnliches Bild, wenn wir einen Baum sehen?« 137 Seine Antwort ist ein klares Nein! Das Gehirn verfügt nicht über ein Bild, sondern hat eine Hypothese über einen Baum und andere Objekte der Außenwelt, die es als bewusste Seherfahrung widerspiegelt.
Francis Crick, Mitentdecker der DNA -Struktur und möglicherweise der kreativste Biologe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, beschäftigte sich in den letzten Jahrzehnten seiner Karriere mit den Wundern der bewussten visuellen Wahrnehmung. Um unsere Vorstellungen über das Sehen in korrektere Bahnen zu lenken, erläuterte Crick, ganz ähnlich wie Gregory, dass wir zwar das Gefühl hätten, in unserem Gehirn befinde sich ein Bild der sichtbaren Welt; in Wirklichkeit aber handle es sich um eine symbolische Repräsentation dieser Welt – um eine Hypothese. Dies sollte uns nicht überraschen. Maschinen wie Computer oder Fernseher präsentieren uns ebenfalls jede Menge Bilder, doch wenn wir unseren Computer oder unser Fernsehgerät öffnen würden, fänden wir keine elektronischen Elemente oder Computerchips, die etwa zu dem hübschen Bild eines Baumes angeordnet sind, von dem Licht in verschiedenen Farbtönen ausstrahlt. Stattdessen würden wir eine Anordnung von Komponenten und Schaltkreisen vorfinden, die verschlüsselte Daten verarbeiten. Crick zieht den Schluss:
Dies ist ein Beispiel für ein Symbol . Die Information im Speicher des Computers ist nicht das Bild; sie symbolisiert das Bild. Ein Symbol ist etwas, das für etwas anderes steht, wie dies z. B. ein Wort tut. Das Wort Hase steht für ein Tier einer bestimmten Art. Niemand würde das Wort mit dem Tier verwechseln. Ein Symbol muß kein Wort sein. Eine rote Ampel symbolisiert »Halt«. Natürlich wird die Darstellung der visuellen Szenerie, die wir im Hirn vorzufinden erwarten, eine Darstellung in irgendeiner symbolischen Form sein. 138
Cricks Bemerkungen lassen bereits vermuten, dass wir die genauen neuronalen Mechanismen dieser symbolischen Repräsentation noch nicht durchschauen.
Wir wissen jedoch, dass der Ausgangspunkt für all unsere Wahrnehmungen der Außenwelt – was wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen – unsere Sinnesorgane sind. Das Sehen beginnt demnach im Auge, das Informationen über die Außenwelt als Licht entdeckt. Die Augenlinse fokussiert und projiziert ein winziges, zweidimensionales Abbild der Außenwelt auf die Netzhaut, eine Schicht von Nervenzellen, die die innere Hinterseite des Auges bedeckt. Die Daten, die spezialisierte Zellen in der Netzhaut erzeugen, entsprechen der sichtbaren Welt auf die gleiche Weise, wie die Pixel in dem Bild Ihres Laptops dem tatsächlichen Bild auf dem Bildschirm entsprechen. Das biologische wie auch das elektronische System verarbeiten Informationen. Das Sehsystem generiert jedoch Repräsentationen im Gehirn (in Gestalt neuronaler Codes), die viel, viel mehr Informationen benötigen, als die bescheidenen Daten hergeben, die das Gehirn von den Augen erhält. Diese Zusatzinformation wird im Gehirn erzeugt.
Was wir mit unserem »geistigen Auge« sehen, geht also weit über das Bild hinaus, das auf die Netzhaut unseres eigentlichen Auges geworfen wird. Das Bild auf der Netzhaut wird zunächst in elektrische Signale zerlegt, die Linien und Konturen beschreiben und so eine Grenze um ein Gesicht oder ein Objekt ziehen. Bei ihrem Weg durch das Gehirn erfahren diese Signale eine Umschlüsselung und werden, auf der Basis von Gestaltregeln und früheren Erfahrungen, zu dem von uns
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