Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
die Art und Weise, wie das Gehirn ein visuelles Bild dekonstruiert und wieder neu erschafft, welches wir dann mit unserem geistigen Auge sehen.
KAPITEL 15
DIE DEKONSTRUKTION DES VISUELLEN BILDES: BAUSTEINE DER FORMWAHRNEHMUNG
W ir sind durch und durch Augentiere und wir leben in einer Welt, die weitgehend auf das Sehen ausgerichtet ist. Wir suchen nach einem Partner, nach Nahrung und Gesellschaft, indem wir Informationen nutzen, die uns unsere Netzhaut liefert. Tatsächlich sind gut die Hälfte der Sinnesreize, die unser Gehirn erreichen, visueller Natur. Ohne Sehvermögen hätten wir die Kunst nicht und vermutlich ein eingeschränkteres Bewusstsein. Darum überrascht es nicht, dass sich Biologen, genau wie Künstler, Kunsthistoriker, Psychologen, Philosophen und andere Wissenschaftler vor ihnen, schon lange mit dem Studium des Sehens beschäftigen.
Die biologische Erforschung der visuellen Wahrnehmung wurde von einer weiteren Geistesgröße aus Wien begründet – von Stephen Kuffler, einem Zeitgenossen von Ernst Kris und Ernst Gombrich. In den 1950er-Jahren gingen zunächst Kuffler und dann auch seine jüngeren Mitarbeiter David Hubel und Torsten Wiesel die Frage an, die Kris und Gombrich keine Ruhe ließ: Wie dekonstruiert das Gehirn Bilder, wenn es visuelle Ereignisse verarbeitet? Sie untersuchten die Reaktion von Neuronen im Sehsystem auf spezifische Reize und ermöglichten den Schritt von einer kognitiven Psychologie der Wahrnehmung zu einer biologischen Analyse der Wahrnehmung.
Bald lieferte ihre Arbeit erste Antworten auf mehrere grundlegende Fragen: Verschlüsseln bestimmte Gehirnzellen figurative Urformen, die Bausteine aller Formen? Verbinden sich die kombinierten Aktivitäten dieser Zellen zu Repräsentationen vollständiger Formen? Das Bild auf der Netzhaut wird zwar dekonstruiert, aber wo im Gehirn wird es wieder neu geschaffen?
Die Verarbeitung der visuellen Information beginnt, wie wir gesehen haben, in der Netzhaut und wird im seitlichen Kniehöcker des Thalamus und danach in rund 30 Seharealen der Großhirnrinde fortgesetzt (Abb. 15-1).
Abb. 15-1.
Vereinfachte Darstellung der Projektionen von visuellen Informationen, ausgehend von der Netzhaut über die Sehareale des Thalamus (seitlicher Kniehöcker) bis zur Hirnrinde.
In einer Reihe bahnbrechender Studien entdeckten Kuffler, Hubel und Wiesel, dass die von Nervenzellen im Gehirn gesendeten Signale schließlich etwas erzeugen, das unserer bewussten Wahrnehmung verschiedener Aspekte eines visuellen Bildes entspricht. Sie fanden heraus, dass Neuronen in den ersten Phasen des Sehvorgangs (in der Netzhaut und im seitlichen Kniehöcker) am effektivsten auf kleine Lichtpunkte reagieren. Die Neuronen im nächsten Relais, der primären Sehrinde oder dem primären visuellen Cortex (V1, dem ersten Relais im Gehirn), strukturieren die visuellen Informationen zu Linien, Kanten und Ecken. Diese Elemente werden zu Konturen und figurativen Urformen kombiniert. Nachfolgende Relais in der Sehrinde, die Informationen aus der primären Sehrinde empfangen, erfüllen ebenfalls spezifische Funktionen: V2 und V3 reagieren auf virtuelle Linien und Grenzen, V4 reagiert auf Farbe und V5 auf Bewegung. Und schließlich erbrachten die Arbeiten weiterer Neurowissenschaftler, dass Neuronen in den höchsten Regionen des visuellen Gehirns auf komplexe Formen, auf Hände, Körper und insbesondere auf Gesichter reagieren. Neuronen in diesen Bereichen, die bestimmte Orte, Gesichter, Körper, Hände und komplexe visuelle Szenen repräsentieren, identifizieren Farbe, räumliche Anordnung und Bewegungen dieser Formen.
SEHEN ERFORDERT LICHT. DAS LICHT, das unser Auge einfängt, ist eine Art elektromagnetischer Strahlung. Diese Strahlung ist durch unterschiedliche Wellenlängen gekennzeichnet; sie werden von Teilchen namens Photonen erzeugt, die die von uns gesehenen Objekte reflektieren. Für den Menschen ist nur ein kleiner Ausschnitt dieser Wellenlängen sichtbar, von 380 Nanometern, die wir als Tiefviolett wahrnehmen, bis zu 780 Nanometern, die wir als Dunkelrot wahrnehmen. Dieser Ausschnitt, das sichtbare Lichtspektrum, ist nur ein winziger Teil des gesamten elektromagnetischen Wellenspektrums (Abb. 15-2, 15-3).
Abb. 15-2. Der Mensch nimmt das sichtbare Lichtspektrum wahr, das nur einen kleinen Teil des gesamten elektromagnetischen Spektrums ausmacht.
Abb. 15-3.
Empfindlichkeit der drei Zapfentypen.
Wenn die von einem Bild ausstrahlenden Photonen des Lichts die Linse des
Weitere Kostenlose Bücher