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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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gleißenden Sonnenlicht ein weißes Hemd als weiß wahr und eine rote Krawatte als rot. Für uns ist die Krawatte rot, weil das Gehirn daran interessiert ist, Informationen über die konstanten Merkmale eines Objekts zu erhalten, in diesem Falle über seinen Reflexionsgrad . Wie wird das ermöglicht? Das Gehirn passt sich an die wechselnden Lichtverhältnisse an. Es berechnet die Farbe der Krawatte und des Hemdes neu, um sicherzugehen, dass diese entscheidenden Identifikationsmerkmale unter vielfältigen Bedingungen gleich bleiben.
    Edwin Land, der Erfinder der Polaroid-Kamera, stellte eine These auf, die mittlerweile allgemein als Schlüssel zu unserer Farbwahrnehmung gilt. Das Gehirn nimmt Farbe wahr, indem es die Wellenlängen des Lichts, die von einem weißen Hemd abstrahlen, und die Wellenlängen des Lichts, die von einer roten Krawatte abstrahlen, registriert und sich das Verhältnis dieser Wellenlängen dann auch für stark variierende Bedingungen merkt. Es ignoriert alle Variationen in der Wellenlänge des von dem Objekt reflektierten Lichts und identifiziert die rote Krawatte bei allen Lichtverhältnissen und zu allen Tageszeiten als »rot«. Diesen Prozess nennt man Farbkonstanz (Abb. 14-6). Dagegen würde die rote Krawatte unter den gleichen wechselnden Lichtverhältnissen ganz anders aussehen, wenn sie auf einem blauen Hemd getragen würde, weil das Verhältnis der Wellenlängen dann ein anderes wäre.
    137 Gregory, R., Seeing Through Illusions , New York 2009, S. 6.
    138 Crick, F., Was die Seele wirklich ist: Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins , übers. von H. P. Gavagai, München 1994, S. 53.
    139 Frith, C., Wie unser Gehirn die Welt erschafft , übers. von M. Niehaus, Heidelberg 2010, S. 175 und 147.

Abb. 14-6.
Farbkonstanz.
Im oberen Teil von Tafel A scheinen das jeweils mittlere Quadrat der Ober- und Vorderseite des Würfels die gleiche Orangefärbung zu haben. Betrachtet man die beiden Quadrate ohne den Einfluss anderer Farben in ihrer Umgebung, wie im unteren Teil der Tafel, wird deutlich, dass es sich in Wahrheit um verschiedene Farben handelt. Sie sehen gleich aus, weil das Gehirn erkennt, dass die Vorderseite des Würfels im Schatten liegt, daraufhin davon ausgeht, dass eigentlich hellere Farbtöne im Schatten dunkler erscheinen, und die Farbwahrnehmung entsprechend anpasst. In Tafel B sind die beiden Quadrate gleichfarbig. Das Gehirn bezieht den Schatten jedoch erneut in seine Berechnungen ein, und so scheinen die Quadrate unterschiedliche Farben zu haben.

Obwohl sich also die Wellenlänge der roten Krawatte objektiv als physikalische Größe messen lässt, die von dem auf die Netzhaut treffenden Licht ausgeht, ist die rote Farbe, die wir wahrnehmen, eine Schöpfung des Gehirns unter ganz bestimmten Umständen, das heißt in einem spezifischen Kontext. Dieses Phänomen nennt man Farbkontrast . Der Kontext wird in hohem Maße von höheren Hirnregionen beeinflusst. Demnach wird unsere Farbwahrnehmung, ganz ähnlich wie unsere Wahrnehmung von Formen, vom Gehirn erzeugt.
    Entsprechend verändern sich auch Größe, Form und Helligkeit eines auf die Netzhaut projizierten Bildes, wenn wir uns bewegen, doch in den meisten Fällen nehmen wir diese Veränderungen nicht wahr. In Bild und Auge gibt Gombrich ein Beispiel hierfür: Wenn uns auf der Straße eine Person entgegenkommt, kann das Bild auf unserer Netzhaut doppelt so groß werden, doch wir nehmen wahr, dass die Person näher kommt, und nicht, dass sie größer wird. Wie wir in Kapitel 16 sehen werden, ist unser Gehirn in der Lage, die Größe der Person konstant zu halten, weil das Sehsystem für sensorische Entfernungshinweise empfindlich ist – etwa relative Größe, bekannte Größe, lineare Perspektive und Okklusion (teilweises Verdecken) –, die aus der Transformation dreidimensionaler Bilder in zweidimensionale auf der Netzhaut abgeleitet werden. Außerdem greift das Gehirn auf unsere früheren Erfahrungen mit Objekten zurück, die auf der Netzhaut zwar ihre Größe verändern, in Wirklichkeit aber nicht wachsen oder schrumpfen.
    Dass wir ein Objekt trotz variierender Größe, Gestalt, Helligkeit und Entfernung als konstant wahrnehmen können, bezeugt die bemerkenswerte Fähigkeit des Gehirns, flüchtige, zweidimensionale Lichtmuster auf der Netzhaut in eine kohärente und stabile Interpretation der dreidimensionalen Welt umzuwandeln. Die beiden folgenden Kapitel untersuchen die Erkenntnisse von Hirnforschern über

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