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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Leseschwäche oder Legasthenie, weil sie sich nicht durch Training lindern lässt. Menschen mit angeborener Prosopagnosie lernen nicht irgendwann, Gesichter besser zu erkennen. Von erworbener Prosopagnosie, die aus einer Schädigung der Gesichtserkennungsareale in der Hirnrinde resultiert, unterscheidet sich die angeborene Form insofern, als die hiervon Betroffenen eine verblüffend normale Hirnaktivität in diesen Bereichen aufweisen. Tatsächlich haben Marlene Behrmann und ihre Kollegen inzwischen mit speziellen bildgebenden Verfahren (Diffusions-Tensor-Bildgebung) herausgefunden, dass bei Personen mit angeborener Prosopagnosie die Gesichtserkennungsareale normal funktionieren, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Arealen auf der (für die Gesichtsverarbeitung wichtigen) rechten Seite der Hirnrinde jedoch gestört ist.
    Der untere temporale Cortex ist ein großer Bereich, der in zwei Regionen mit jeweils einer speziellen Verarbeitungsfunktion aufgeteilt ist. Der hintere untere temporale Cortex ist an der visuellen Verarbeitung von Gesichtern auf der unteren Ebene beteiligt. Schäden in dieser Region haben die Unfähigkeit, ein Gesicht als Gesicht zu erkennen, zur Folge. Der vordere untere temporale Cortex ist an der visuellen Verarbeitung der oberen Ebene beteiligt. Schäden in dieser Region führen zu Problemen bei der Verknüpfung perzeptueller Repräsentationen von Gesichtern mit semantischem Wissen. Betroffene können ein Gesicht als Gesicht erkennen sowie die Teile des Gesichts und sogar spezifische Gesichtsausdrücke, sind aber nicht in der Lage, das Gesicht einer bestimmten Person zuzuordnen. Häufig können sie enge Verwandte oder selbst ihr eigenes Gesicht im Spiegel nicht erkennen – sie haben die Verbindung zwischen einem Gesicht und einer Identität verloren.
    Die Informationen, die diese beiden Regionen des unteren temporalen Cortex an andere Hirnregionen senden, sind für die visuelle Kategorisierung, das visuelle Gedächtnis und Gefühle von zentraler Bedeutung. Ein Großteil dieser Informationen wird parallel zu drei Zielregionen geleitet – für die Kategorisierung und Speicherung im Kurzzeitgedächtnis zum seitlichen präfrontalen Cortex , für die Speicherung im Langzeitgedächtnis zum Hippocampus , für positive und negative emotionale Bewertungen und das Hervorrufen instinktiver Reaktionen auf die Wahrnehmung von Objekten zur Amygdala .
    BEI DER ERKENNUNG VON OBJEKTEN bilden Gesichter die bei Weitem wichtigste Kategorie, weil wir vor allem an ihnen andere Personen und sogar Abbildungen von uns selbst erkennen. Wir nähern uns Menschen als Freunden oder meiden sie als Feinde, wenn wir sie erkannt haben, und schließen von ihrem Gesichtsausdruck auf ihre Gefühlslage. Demzufolge hat man realistische Künstler jahrhundertelang nach ihrer Fähigkeit beurteilt, ihre Modelle wirklichkeitsgetreu abzubilden – insbesondere die subtilen Merkmale ihres Gesichts und charakteristische Gesten. Große Künstler zerlegen das komplexe Bild des Gesichts auf solch meisterhafte Weise in farbige Pinselstriche, dass die Betrachter diese mühelos und mit Vergnügen wieder zur einheitlichen Wahrnehmung eines ausdrucksvollen, individuellen Gesichts zusammensetzen können. Gustav Klimt und vor allem seine Schützlinge Oskar Kokoschka und Egon Schiele stellten sich einer noch größeren Herausforderung – sie loteten bislang unbekannte emotionale Tiefen in ihrem Bemühen aus, neben der äußeren Erscheinung ihrer Modelle auch deren Innenleben darzustellen.
    Zu allen Zeiten haben Künstler die Sonderstellung des Gesichts erkannt. Zudem entdeckten die Bologneser Künstler des 16. Jahrhunderts, wie Ernst Kris und Ernst Gombrich hervorhoben, dass die Karikatur eines Gesichts – eine übertriebene Strichzeichnung – häufig leichter zu erkennen ist als das wirkliche Gesicht. Von dieser Erkenntnis profitierten die Manieristen und später erneut die Expressionisten. Kokoschka und Schiele machten sich intuitiv die Empfänglichkeit des Sehsystems für übertrieben dargestellte Gesichtszüge sowie übersteigerte Hand- und Körperhaltungen zunutze. Indem die Expressionisten die körperlichen Merkmale ihrer Modelle verfremdeten, versuchten sie unbewusste Gefühle auszudrücken und zugleich hervorzurufen.
    In ihrer Eigenschaft als visuelle Bilder werfen Darstellungen von Gesichtern außerordentlich interessante Fragen auf. Einerseits sind sich alle Gesichter recht ähnlich – sie haben zwei Augen, eine Nase und einen

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