Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
der visuellen Wahrnehmung, hat eine Abbildung entworfen, die illustriert, wie wir anhand vereinfachter Physik neu schaffen, was wir in einem Kunstwerk sehen. Er nennt die Abbildung »Kräuselung« (Abb. 16-21). Die Kräuselung ist eine Zeichnung auf einer flachen, zweidimensionalen Oberfläche, doch sie scheint räumliche, wellenförmige Erhebungen zu bilden, wie kreisförmige Wellen auf einem Teich. Genau wie bei anderen überzeugenden dreidimensionalen Zeichnungen gelingt es uns nicht, die Abbildung als flach wahrzunehmen.
Die Kräuselung hat drei Bereiche – einen kleinen Höcker in der Mitte, eine kreisförmige Welle, die den Höcker umschließt, und ganz außen eine weitere Kreiswelle. Um die Erörterung der Abbildung zu erleichtern, hat Hoffman die Begrenzungen dieser Bereiche durch gestrichelte Linien hervorgehoben, die die Wellentäler zwischen den Wellen kennzeichnen. Wenn Sie nun die Figur (oder sich selbst) auf den Kopf stellen, erblicken Sie die umgekehrte Kräuselung mit neuen Bereichen – die gestrichelten Linien liegen nun auf Wellenbergen und nicht mehr, wie zuvor, in den Tälern zwischen den Wellen. Durch Zurückdrehen der Figur stellen Sie die ursprünglichen Bereiche wieder her. Wenn Sie die Figur langsam hin- und herdrehen, erleben Sie, wie die Anordnung der Bereiche plötzlich umspringt.
Abb. 16-21.
»Kräuselung«.
Die Kräuselung ist ein beeindruckendes Meisterwerk unserer Schöpferkraft. Die Kurven, die wir auf dem Blatt sehen, und die gekräuselte dreidimensionale Oberfläche werden ganz und gar von unserem Gehirn erzeugt. Hoffman schreibt: »Ihr Sehsystem erzeugt nicht nur die Kräuselung, es zerlegt die Figur auch noch in verschiedene Teile. … Dabei werden Sie feststellen, daß Ihre Konstruktion der Kräuselung und ihrer Teile einer wunderbaren Logik folgt.« 143 Das bedeutet, dass wir nicht nur passive Wahrnehmer der Teile sind, sondern ihr aktiver Schöpfer.
NUN KÖNNEN WIR ALLMÄHLICH ERMESSEN, wie bedeutsam unbewusste geistige Prozesse für die Wahrnehmung von Kunst sind. Wir beginnen auch zu erkennen, wie wichtig Gombrichs Ideen über figurative Urformen im Hinblick auf die historische Betrachtung der Evolution von Kunst sind. Wir verstehen, dass selbst die frühesten uns bekannten Künstler, die Höhlenmaler aus Südfrankreich und Nordspanien, bereits entdeckt hatten, was Gombrich als kunstvolle Schlüssel für die geheimnisvollen neuronalen Schlösser unserer Sinne bezeichnete. Die Arbeiten von Kuffler, Hubel und Wiesel über die visuelle Verarbeitung der unteren und mittleren Ebene sowie nachfolgende Untersuchungen über die visuelle Verarbeitung der oberen Ebene, von denen die beiden nächsten Kapitel berichten, haben uns wertvolle Einsichten darüber beschert, wie das Gehirn in unbewussten Prozessen erschafft, was wir sehen.
142 Cavanagh, P., »The Artist as Neuroscientist«, Nature 434 (2005), S. 301.
143 Hoffman, D. D., Visuelle Intelligenz: Wie die Welt im Kopf entsteht , übers. von H. Kober, Stuttgart 2000, S. 16f.
KAPITEL 17
SEHPROZESSE DER OBEREN EBENE UND DIE WAHRNEHMUNG VON GESICHT, HÄNDEN UND KÖRPER DURCH DAS GEHIRN
W ir haben gesehen, dass die visuelle Verarbeitung der unteren und mittleren Ebene dafür zuständig ist, einfache Liniensegmente zu den Konturen eines Bildes anzuordnen, die Eigentümer von Rändern zu bestimmen und eine Figur von ihrem Hintergrund zu trennen, aber wie nehmen wir Objekte wahr? Wie nehmen wir Gesichter wahr, Hände und Körper? Wie kommt es zur »Beteiligung des Betrachters«?
Die Untersuchungen, die auf David Hubels und Torsten Wiesels Entdeckungen folgten, spürten diesen Fragen bis zur visuellen Verarbeitung der oberen Ebene nach, auf der Objekte identifiziert werden. Semir Zeki und David Van Essen fanden rund 30 Relais außerhalb der primären Sehrinde, die die Aufgabe haben, Informationen über Form, Farbe, Bewegung und Tiefe weiter zu analysieren und aufzuteilen. Die Informationen aus all diesen spezialisierten Arealen werden kategorisiert und getrennt zu höheren, kognitiven Hirnregionen, einschließlich des präfrontalen Cortex, weitergeleitet, wo schließlich die Zusammenführung zu einer einzigen, identifizierbaren Wahrnehmung erfolgt.
DIE AUFTEILUNG DER INFORMATIONEN beginnt in der primären Sehrinde. Wie erwähnt, werden sie von dort auf einer von zwei parallelen Bahnen weitergeleitet – der »Was«-Bahn und der »Wo«-Bahn (Abb. 17-1). Die »Was«-Bahn, die ihren Input großenteils von den Zapfen im zentralen
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