Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Gehirn trifft diese Entscheidungen, indem es Hypothesen über den Charakter des Bildes prüft. Wenn die Augen ein Gesicht fokussieren, senden sie dem Gehirn eine Botschaft, das diese Botschaft seinerseits im Licht einer bestimmten Hypothese analysiert. Ist dies ein menschliches Gesicht oder nicht? Wenn es ein Mensch ist, ist es ein Mann oder eine Frau? Wie alt ist die Person? Die Modelle, die unser Gehirn von der Welt konstruiert, fordern unsere visuelle Aufmerksamkeit in Abständen von Sekundenbruchteilen. Wir leben in zwei Welten zugleich und unsere kontinuierliche visuelle Erfahrung ist ein Zwiegespräch zwischen beiden – der Außenwelt, die Zugang über die Sehgrube erhält und in Bottom-up-Prozessen bearbeitet wird, und der Innenwelt mit den perzeptuellen, kognitiven und emotionalen Modellen des Gehirns, die die Informationen aus der Sehgrube durch ihre Top-down-Analyse beeinflusst.
Je nach unserer visuellen Aufmerksamkeit variiert die Zeitspanne, in der unsere Augen ein bestimmtes Merkmal eines Porträts oder eines realen Gesichts fokussieren. Die Aufmerksamkeit unterliegt vielfältigen kognitiven Faktoren, wie Absicht, Interesse, durch Erinnerungen aktiviertem früherem Wissen, Kontext, unbewusster Motivation und instinkthaften Trieben. Entdecken wir ein besonders prägnantes oder interessantes Merkmal, wenden wir ihm vielleicht unsere volle Aufmerksamkeit zu, indem wir unsere Augen oder den Kopf so bewegen, dass wir das Merkmal auf das Zentrum unserer Netzhaut fokussieren. Diese eingehende Untersuchung ist wiederum nur für einen ganz kurzen Augenblick – einige hundert Millisekunden – möglich, weil das Auge seine Sondierung erbarmungslos fortsetzt und sich zum nächsten Merkmal bewegt, das es einige Millisekunden fokussiert, bevor es zum ersten Merkmal zurückkehrt. Selbst wenn wir und die Objekte, die uns interessieren, bewegungslos verharren, bewegen sich die Bilder auf unserer Netzhaut, denn unsere Augen und unser Kopf halten nie vollkommen still.
OBJEKTE, SZENEN UND GESICHTER sind im unteren temporalen Cortex repräsentiert. Sigmund Freud hatte bereits erkannt, dass visuelle Verarbeitung der oberen Ebene wahrscheinlich in den höheren Regionen der Großhirnrinde erfolgt. Er vermutete die Ursache für die Unfähigkeit bestimmter Patienten, spezifische Merkmale der sichtbaren Welt zu erkennen, nicht in einem Defekt des Auges, sondern in einer Beeinträchtigung dieser höheren Regionen, die deren Fähigkeit beeinflusste, Aspekte des Sehens zu einem sinnvollen Muster zusammenzufügen. Diese Beeinträchtigungen nannte er Agnosien (fehlendes Wissen).
Als Neurologen und Neurowissenschaftler Agnosiepatienten untersuchten und den Verlust bestimmter geistiger Funktionen mit Störungen in bestimmten Hirnbereichen korrelierten, stellten sie fest, dass sich Schädigungen bestimmter Regionen der »Was«- und »Wo«-Bahnen verblüffend spezifisch auf die Wahrnehmung auswirkten. So hatte eine Person, bei der ein bestimmtes Relais der »Wo«-Bahn verletzt war, keine Tiefenwahrnehmung, konnte aber ansonsten normal sehen. Eine Person mit einer Schädigung eines anderen Relais der »Wo«-Bahn konnte keine Bewegungen wahrnehmen, obwohl alle anderen perzeptuellen Fähigkeiten unbeeinträchtigt waren. Eine Schädigung des Farbenzentrums in der »Was«-Bahn, das die vordere Region des unteren temporalen Cortex einschließt, erzeugt Farbenblindheit. Ist eine benachbarte Region gestört, kann die betreffende Person keine Farben benennen, obwohl andere Aspekte der Farbwahrnehmung unbeeinträchtigt bleiben. Und schließlich kann eine Schädigung des unteren temporalen Cortex der »Was«-Bahn einen spezifischen Defekt der Gesichtserkennung hervorrufen, den man als Prosopagnosie bezeichnet. Betroffene können enge Freunde oder Verwandte dann nur an ihrer Stimme oder anderen Unterscheidungsmerkmalen, etwa an einer Brille, erkennen.
DAS KRANKHEITSBILD DER PROSOPAGNOSIE wurde erstmals 1947 in einem Aufsatz des deutschen Neurologen Joachim Bodamer beschrieben, der die Störung nach den griechischen Wörtern für Gesicht (prosopon) und Unwissenheit ( agnosia) benannte. Bodamer behandelte drei Patienten, die infolge einer Hirnverletzung an Prosopagnosie litten. Wir wissen heute, dass es zwei Formen der Prosopagnosie gibt – die erworbene und die angeborene. Die angeborene Form der Prosopagnosie, von der vermutlich zwei Prozent der Bevölkerung betroffen sind, unterscheidet sich von anderen angeborenen Hirnstörungen, wie der
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