Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Mund. Wir erkennen ein Gesicht als Gesicht in nichts weiter als der Zeichnung von einem Kreis, in dem sich eine senkrechte Linie als »Nase«, zwei Punkte als »Augen« und darunter eine waagerechte Linie als »Mund« befinden. Andererseits lässt sich diese universelle Anordnung scheinbar unendlich variieren. Jedes Gesicht ist einzigartig; es macht einen Menschen so unverwechselbar wie sein Fingerabdruck. Doch während die meisten Leute nicht in der Lage sind, die Wirbel eines vergrößerten Fingerabdrucks zu erkennen und sich einzuprägen, kann sich jeder von uns ohne bewusste Anstrengung Hunderte, ja sogar Tausende von Gesichtern einprägen und erkennen. Wie ist das möglich?
Die beiden Neurowissenschaftlerinnen Doris Tsao und Margaret Livingstone, die später einen neuen Ansatz zur Erforschung dieser Frage entwickelten, begannen mit dem Studium der Gesichtswahrnehmung, weil sich daran einige anspruchsvolle Probleme der allgemeinen visuellen Wahrnehmung untersuchen lassen. Die Gesichtswahrnehmung ist die ultimative Herausforderung für die »Was«-Bahn. Darum betrachteten Tsao und Livingstone die Gesichtserkennung als ideales Beispiel, um die Informationsverarbeitung in der »Was«-Bahn zu ergründen. Livingstone schreibt: »Gesichter gehören zu den informativsten Reizen, die wir wahrnehmen. Bereits ein Sekundenbruchteil, in dem wir das Gesicht einer Person sehen, verrät uns ihre Identität, ihr Geschlecht, ihre Stimmung, ihr Alter, ihre ethnische Zugehörigkeit und worauf sich ihre Aufmerksamkeit richtet.« 144
Moderne kognitionspsychologische und neurobiologische Studien haben erklärt, warum menschliche Gesichter, Hände und Körper etwas so Besonderes sind – sie sind spezifische Wahrnehmungsobjekte im Sinne der Gestalttheorie. Wir nehmen sie in ihrer Gesamtheit wahr, sobald unsere Sinne sie aufspüren. Statt zu versuchen, ein Gesicht aus einem Muster von Linien zusammenzubasteln, wie es das bei anderen visuellen Bildern macht, nimmt das Gehirn den Abgleich mit einer Schablone vor. Es rekonstruiert das Gesicht aus einer abstrakteren figurativen Urform höherer Ordnung – einem Oval mit zwei Punkten (für die Augen), einer senkrechten Linie zwischen diesen Punkten (für die Nase) und einer waagerechten Linie darunter (für den Mund). Demnach erfordert die Wahrnehmung eines Gesichts ein geringeres Maß an Dekonstruktion und Rekonstruktion eines Bildes als die Wahrnehmung anderer Objekte.
144 Tsao, D. und M. Livingstone, »Mechanisms of Face Perception«, Annual Review of Neuroscience 31 (2008), S. 411.
Abb. 17-3.
Giuseppe Arcimboldo,
Der Gemüsegärtner (um 1590).
Öl auf Holz.
Oben das Umkehrbild.
Darüber hinaus ist das Gehirn auf den Umgang mit Gesichtern spezialisiert. Im Gegensatz zu anderen komplexen Formen sind Gesichter nur dann leicht zu erkennen, wenn man sie richtig herum sieht. Stehen sie auf dem Kopf, ist es schwierig, sie zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. Giuseppe Arcimboldo, ein Künstler des 16. Jahrhunderts aus Mailand, der ein Liebling der Wiener war, hat dies auf rigorose Weise illustriert, indem er in seinen Gemälden Gesichter aus Obst und Gemüse schuf. Richtig herum betrachtet, erkennt man in den Bildern problemlos Gesichter, aber wenn sie auf dem Kopf stehen, sieht man in ihnen bloß eine Schüssel voller Früchte und Gemüse (Abb. 17-3). Besonders empfindlich reagieren Gesichtsausdrücke auf das Umdrehen, wie die zwei Versionen der Mona Lisa in Abb. 17-4 zeigen. Wenn die Darstellungen auf dem Kopf stehen, sind im Gesichtsausdruck kaum Unterschiede auszumachen, aber wenn die Bilder richtig herum liegen, offenbaren sich drastische Unterschiede an den Mundwinkeln und in der Öffnung der Augen. 145 Das menschliche Gehirn räumt Gesichtern eindeutig eine Sonderstellung ein, die eine aufrechte Ausrichtung voraussetzt.
Abb. 17-4.
Leonardo da Vinci, Mona Lisa (um 1503–1506).
Öl auf Holz.
Die Bilder wurden auf den Kopf gestellt und modifiziert.
Die Hirnmechanismen, die der Gesichtserkennung zugrunde liegen, entwickeln sich schon früh in der Kindheit. Von Geburt an betrachten Säuglinge viel häufiger Gesichter als andere Objekte. 146 Außerdem ahmen Säuglinge mit Vorliebe Gesichtsausdrücke nach, was die zentrale Bedeutung widerspiegelt, die die Gesichtswahrnehmung für die soziale Kommunikation hat. Drei Monate alte Babys beginnen Unterschiede in Gesichtern zu erkennen und zwischen den Gesichtern von Personen zu unterscheiden. Zu diesem Zeitpunkt sind ihre
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