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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Fähigkeiten in dieser Hinsicht noch universell – sie erkennen die Gesichter verschiedener Affen genauso schnell wie die Gesichter verschiedener Menschen. 147 + 148 Die Fähigkeit, zwischen nichtmenschlichen Gesichtern zu unterscheiden, beginnen sie mit sechs Monaten wieder zu verlieren, weil sie in dieser entscheidenden Entwicklungsphase der ersten Monate überwiegend Kontakt zu verschiedenen Menschengesichtern und nicht zu verschiedenen Tiergesichtern gehabt haben. Diese Feinabstimmung der artspezifischen Gesichtswahrnehmung verläuft parallel zur Feinabstimmung der Spracherkennung: Zwischen vier und sechs Monaten alte Babys können phonetische Unterschiede in fremden Sprachen genauso gut erkennen wie in ihrer Muttersprache, aber im Alter von zehn bis zwölf Monaten gelingt ihnen das nur noch in ihrer eigenen Sprache.
    1872 wies Charles Darwin darauf hin, dass Babys, um überleben und die Spezies Mensch erhalten zu können, Erwachsene brauchen, die auf sie eingehen und für sie sorgen. Unter dem Einfluss von Darwin fragte sich der österreichische Ethologe Konrad Lorenz, der in bahnbrechenden Untersuchungen das Verhalten von Tieren in der Natur erforschte, welche Aspekte der Physiognomie von Säuglingen intuitiv die biologische Fürsorge der Eltern hervorrufen. 1943 äußerte er die Vermutung, dass dies höchstwahrscheinlich die relativ großen Köpfe von Babys, ihre großen Augen unter einer hohen Stirn und die runden Wangen seien. Er behauptete, diese Merkmale dienten als »Schlüsselreize«, die die angeborene Bereitschaft zu elterlicher Fürsorge, Zuneigung und Nahrungsbeschaffung weckten.
    Wie werden Gesichter auf der zellulären Ebene repräsentiert? Sind einige Zellen im Gehirn für die Bausteine eines Gesichts zuständig und ergibt die Kombination ihrer Aktivitäten Repräsentationen eines Gesichts? Oder codieren spezifische Zellen das Bild spezifischer Gesichter? Im Hinblick auf die Arbeiten von Hubel und Wiesel fand man in den 1970er-Jahren zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Die eine entsprach der hierarchischen oder ganzheitlichen Auffassung, dass es an der Spitze der Hierarchie spezifische »päpstliche« Zellen geben müsse, die Bilder von Personen – beispielsweise von Ihrer Großmutter – oder auch von irgendwelchen anderen komplexen Objekten codieren. Demnach könnten Sie über mehr als eine päpstliche »Großmutterzelle« verfügen und diese Zellen könnten auf verschiedene Aspekte Ihrer Großmutter reagieren, doch jede einzelne würde einer sinnvollen Repräsentation ihres Bildes entsprechen. Die andere Auffassung einer zergliederten oder verteilten Repräsentation besagte, dass Sie keine Großmutterzellen besitzen, die deren ganz individuelles Bild codieren. Vielmehr verberge sich die Repräsentation Ihrer Großmutter in verschlüsselten Aktivitätsmustern einer großen Ansammlung von Neuronen – eines Kardinalskollegiums, wenn man so will.
    DIE ERSTE PERSON, DIE ZWISCHEN diesen beiden Alternativen zu differenzieren versuchte, war Charles Gross. Er orientierte sich an den Arbeiten von Hubel, Wiesel und Bodamer und begann 1969, die Aktivität einzelner Zellen im unteren temporalen Cortex von Affen aufzuzeichnen; beim Menschen können Schädigungen in dieser Region, wie erwähnt, zu Prosopagnosie führen. Gross stellte fest, dass einige Zellen im unteren temporalen Cortex verblüffenderweise spezifisch auf die Hände von Menschen reagierten, andere Zellen hingegen auf ihre Gesichter. Überdies reagierten die entsprechenden Zellen nur dann auf Hände, wenn die einzelnen Finger zu erkennen waren; sie reagierten nicht, wenn zwischen den Fingern keine Lücke zu sehen war. Die Reaktionen erfolgten unabhängig von der Ausrichtung der Hand – es war beispielsweise unerheblich, ob Daumen und Finger nach oben oder nach unten zeigten. Die Zellen, die auf Gesichter reagierten, waren nicht auf ein bestimmtes Gesicht spezialisiert, sondern sprachen auf die generelle Kategorie der Gesichter an. Dies ließ Gross vermuten, dass ein bestimmtes Gesicht, eine bestimmte Großmutter, durch eine kleine, spezifische Ansammlung von Nervenzellen repräsentiert wird – ein Ensemble von Großmutterzellen oder Proto-Großmutterzellen.
    Das späte 20. Jahrhundert erlebte das Aufkommen bildgebender Verfahren, wie der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (fMRT), die die Erforschung des Gehirns revolutionierten. Sie ermöglichten Wissenschaftlern, den Blutfluss und

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