Das Zeitalter der Fuenf 01 Priester
Göttern. Heute werden wir unter jenen, die ihr als die Würdigsten unter euch erachtet, einen fünften Stellvertreter erwählen. Demjenigen, für den wir uns entscheiden, verleihen wir Unsterblichkeit und große Stärke. Wenn unser Geschenk angenommen wird, wird eine weitere Etappe unserer gewaltigen Aufgabe erfüllt sein.«
Nach diesen Worten hatte er eine kurze Pause eingelegt. Auraya hatte eine längere Ansprache erwartet. Ein so vollständiges Schweigen hatte daraufhin die Halle erfüllt, dass sie davon überzeugt gewesen war, dass jeder Mann und jede Frau den Atem angehalten haben musste. Ich habe ganz gewiss den Atem angehalten, erinnerte sie sich.
Dann war der Augenblick gekommen, den sie nie vergessen würde.
»Wir bieten dieses Geschenk der Hohepriesterin Auraya von der Familie Färber an«, hatte Chaia gesagt und sich ihr zugewandt. »Tritt vor, Auraya von den Weißen.«
Auraya schöpfte bebend Atem, als das Glück jenes Geschehens noch einmal durch ihre Adern floss. In dem Augenblick selbst war es von schierem Entsetzen durchtränkt gewesen. Sie hatte sich einem Gott nähern müssen. Sie hatte im Zentrum der Aufmerksamkeit - und wahrscheinlich auch der Eifersucht - mehrerer tausend Menschen gestanden.
Jetzt war es die Realität ihrer Zukunft, die das Glücksgefühl abschwächte. Von dem Augenblick ihrer Erwählung an hatte sie kaum einen Moment Zeit für sich gehabt. Ihre Tage waren angefüllt mit Begegnungen mit Herrschern und anderen wichtigen Persönlichkeiten - und den Schwierigkeiten, die von Sprachbarrieren bis hin zu der Notwendigkeit reichten, Versprechen zu vermeiden, die zu geben die anderen Weißen noch nicht bereit waren. Die einzige Zeit, die sie für sich allein hatte, waren die Nachtstunden, in denen sie eigentlich schlafen sollte. Bisher hatte sie jede Nacht wach gelegen und versucht, Ordnung in all die Dinge zu bringen, die ihr widerfahren waren. Heute Abend war sie in ihrem Quartier auf und ab gegangen und hatte sich schließlich vor den Spiegel gesetzt.
Es ist ein Wunder, dass ich nicht wie ein Wrack aussehe, dachte sie und zwang sich, ihr Spiegelbild noch einmal zu betrachten. Ich sollte nicht so gut aussehen. Ist das ein weiteres Geschenk der Götter?
Sie blickte auf ihre Hand hinab. Der weiße Ring an ihrem Mittelfinger schien beinahe zu glühen. Durch ihn verliehen die Götter ihr die Gabe der Unsterblichkeit, und irgendwie verstärkte der Ring ihre eigenen Gaben. Die Götter hatten sie zu einer der mächtigsten Zauberinnen der Welt gemacht.
Als Gegenleistung stellte sie ihren Willen und ihr nunmehr unbegrenztes Leben in ihren Dienst. Sie waren magische Wesen. Um Einfluss auf die Welt der Dinge zu nehmen, mussten sie durch Menschen wirken. Meistenteils geschah dies durch Unterweisung, aber wenn ein Mensch seinen Willen den Göttern überantwortete, konnten diese seinen Körper übernehmen. Letzteres geschah nur selten, da es, wenn dieser Zustand zu lange aufrechterhalten wurde, den Geist des Betreffenden schädigen konnte. Manchmal geriet dann das Bewusstsein seines Selbst in Unordnung, und er glaubte, er selbst sei der Gott. Manchmal vergaß er einfach, wer er war.
Das Beste ist wohl, nicht darüber nachzudenken, ging es ihr durch den Kopf. Die Götter würden ohnehin nicht den Geist eines ihrer Auserwählten zerstören. Es sei denn, sie wollten ihn bestrafen ...
Ihr Blick fiel auf einen alten Schrankkoffer an der Wand. Die Diener hatten ihre Anweisung, ihn ungeöffnet zu lassen, befolgt, und bisher hatte sie weder die Zeit noch den Mut gefunden, den Koffer selbst zu öffnen. Darin befanden sich die wenigen Dinge, die sie besaß. Sie war davon überzeugt, dass die hübschen, billigen Kleinigkeiten, die sie im Laufe der Jahre gekauft hatte, in den strengen Quartieren der Weißen schäbig wirkten mussten, aber sie wollte sie dennoch nicht wegwerfen. Sie erinnerten sie an Zeiten in ihrem Leben und an Menschen, die sie liebte oder die sie im Gedächtnis behalten wollte: ihre Eltern, ihre Freunde in der Priesterschaft und ihren ersten Geliebten - wie lange all das jetzt zurückzuliegen schien!
Ganz unten in dem Koffer befand sich allerdings etwas, von dem größere Gefahr ausging. Dort lagen in einem Geheimfach mehrere Briefe, die sie vernichten sollte.
Doch sie wollte sie nicht vernichten, ebenso wenig wie die hübschen, nutzlosen Kleinigkeiten in dem Koffer. Doch im Gegensatz zu Letzteren konnten die Briefe, sollten sie entdeckt werden, durchaus einen Skandal verursachen.
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