Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
die starken Gefühle. Vielleicht werden Sie wütend, vielleicht depressiv. Wie auch immer, ich rate Ihnen, spätestens dann Hilfe anzunehmen. Die finden Sie bei uns, wir haben außerdem Adressen …«
»Ja, ja«, sagte ich ungeduldig. »Was bringt mir das jetzt? Kommt er davon wieder? Ich meine, gibt es irgendwas, das Sie tun können, um nach ihm zu suchen? Also, etwas anderes als das, was die Polizei macht?«
»Lassen Sie mich bitte noch erläutern, warum ich Ihnen von dem Jungen erzählt habe, der sich nach einem Jahr bei uns gemeldet hat. Die Familie war überglücklich, von ihm zu hören. Sie wussten, dass er lebt und dass es ihm gut geht, und sie können jetzt normal weiterleben. Das ist der Unterschied, wenn jemand verschwindet: die Ungewissheit. Wenn jemand stirbt, wollen Sie es auch erst nicht wahrhaben, aber Sie begreifen mit der Zeit, dass dieser Mensch nicht zurückkehrt. Wenn jemand verschwindet, haben Sie nie Gewissheit.«
Da hatte sie aber ganz groß aufgepasst bei der Schulung.
»Kurz gesagt: Sie können nichts tun, außer mir Sachen sagen, die ich sowieso schon weiß? Oder rührselige Geschichten von anderen erzählen?«
»Wir stehen Ihnen bei, wenn Sie uns brauchen.«
»Tut mir leid, ich habe etwas anderes erwartet. Mein Fehler.«
Ich stand einfach auf und ging. Sie versuchte nicht, mich aufzuhalten.
Vielleicht war ich keine gute Partnerin für Sean. Vielleicht hat er sich eine ganz andere Art Frau gewünscht. Eben eine, die sich mehr um ihn kümmert. Mehr Zeit für ihn hat. Ich habe die Wohnung jetzt so schön gemacht, wie sie noch nie war. Gut, ein bisschen sehr wie ein Abklatsch aus »Ideal Home«. Ich lege ja vor allem Wert darauf, dass die Einrichtung praktisch ist. Aber ich erinnere mich, dass Sean manchmal gesagt hat: »Mir fehlt ein bisschen Wärme in der Wohnung, und damit meine ich nicht die Raumtemperatur.«
Ich habe ihn vertrieben.
Nachtrag:
Es bringt mich noch um … Sophie hat natürlich recht. Wenn ich wüsste, was mit ihm ist … Oder wenigstens, warum er gegangen ist. Er muss wegen mir gegangen sein … Warum musste ich mich nur wieder mit ihm streiten?
Donnerstag, 2. Dezember 2010
8.
»Sie können ihn ruhig anfassen«, sagte die Ärztin.
Cedric sah auf seine Hände, die noch in Handschuhen steckten. Er hatte nicht vor, sie auszuziehen. »Ich bin nicht so gut mit so was«, sagte er und bemühte sich, entschuldigend zu klingen.
»Aber Sie haben vor, sich um Ihren Bruder zu kümmern?« Die Ärztin klang misstrauisch.
»Halbbruder«, sagte Cedric und starrte immer noch auf seine Hände. Die Ärztin warf ihm einen düsteren Blick zu und setzte sich zu William auf den Boden. Er stapelte mit tiefernstem Gesicht Klötzchen aufeinander, die kurz darauf von einem der anderen Kinder umgeworfen wurden. Die anderen tapsten und krabbelten lärmend um ihn herum. Cedric gratulierte ihm innerlich zu seiner Taubheit. Er hielt das Geschrei kaum aus.
Die Ärztin half William mit seinen Bauklötzchen. Wenn sie etwas zu ihm sagte, tippte sie ihn vorher an und zeigte auf ihren Mund. Beim Reden benutzte sie gleichzeitig Gebärdensprache. Cedric drehte sich um, ging auf den Flur und setzte sich ins Wartezimmer.
Er hasste Krankenhäuser. Er hatte das Gefühl, jede einzelne Krankheit in seinen Blutkreislauf aufzunehmen, kaum, dass er das Krankenhaus betrat. Dasselbe galt für Arztpraxen. Hinterher hatte er mindestens eine Woche lang Symptome von Schwindel über Übelkeit, Sehstörungen, Taubheitsgefühle, Wadenkrämpfe, Herzrhythmusstörungen und Atemnot bis hin zu Kopfschmerzen. Cedric wollte sich gar nicht vorstellen, wie er sich fühlen musste, nachdem er das Kinderkrankenhaus verlassen hatte. Er hatte jetzt schon das Gefühl, dass es ihn am ganzen Körper juckte.
Cedric war viel zu früh. Die beiden Anwälte – einer von seinen, einer von Lillian – würden erst in einer Viertelstunde eintreffen. Aber er hatte wieder nicht richtig schlafen können. War seit vier Uhr morgens wach, hatte sich im Internet Berichte von Menschen durchgelesen, die dieselbe Krankheit hatten wie sein Halbbruder, war sogar zum Krankenhaus gelaufen, eine halbe Stunde durch den kalten, grauen schottischen Morgen, um die Zeit totzuschlagen.
Die Anwälte hatten Lillians Mutter kontaktiert, damit sie sich um William kümmerte. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte sich Cedric gefragt, wie es werden würde: Sie würde als Vormund und gesetzlicher Vertreter Williams Erbe verwalten. Welche Auswirkungen das für die
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