Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
nicht mehr verstecken konnte. Dann dauerte es länger, bis er wieder auftauchte. Wenn die schwarzen Wolken kamen, brachten sie ihn auf die Krankenstation. Sie wollten keine Selbstmörder.
Cedric schaffte seinen Abschluss, und er ging zum Studieren nach St. Andrews. Er nahm die Grauen Tage mit, und mit den Grauen Tagen die Angst. Neu war die Panik, die ihn hinterrücks überfiel und für Stunden niederdrücken konnte. Erst kam ein Summen im Ohr. Dann schwankte der Boden, und die Wirklichkeit war keine mehr. Als Nächstes fing das Herz an zu rasen. Schwitzen, zittern, keuchen. Beim ersten Mal dachte er, er bekäme einen Herzinfarkt und ließ sich in die Notaufnahme bringen. Beim zweiten Mal landete er wieder in der Notaufnahme, fest überzeugt, nun wirklich einen Herzinfarkt zu haben. Oder einen Schlaganfall. Beim dritten Mal erklärte er der Krankenschwester, dass er vermutlich eine Panikattacke hatte, aber gerne sicherstellen würde, dass es kein Herzinfarkt war. Nach dem vierten Mal erklärte ihm sein Psychiater, dass er niemanden kannte, dessen innere Selbstkontrollinstanz sogar noch während einer schweren Panikattacke anspringen konnte. Er empfahl Tabletten. Cedric lehnte ab. Er hatte Angst vor Tabletten. Seine Mutter hatte sie genommen, und zwei Wochen später war sie gestorben.
Erst nachdem sein Vater verschwunden war und es sich herausstellte, dass er für den Tod sehr vieler Menschen verantwortlich war – indem er Morde in Auftrag gegeben oder sogar selbst begangen hatte –, fing Cedric mit einer alltagsbegleitenden Psychotherapie an. Er kam nicht darum herum, über seine Vergangenheit zu reden. Darüber, dass er seinen Vater immer nur enttäuscht hatte, weil er nicht so war wie er, sondern wie seine Mutter. Und dann war er auch noch krank geworden, wie seine Mutter. Er hatte die falschen Lieblingsfächer in der Schule gehabt, die falschen Interessen, später das falsche Studienfach. Er war nie ein Sportler gewesen, kein Rugby, kein Polo, nichts, was ihn mit seinem Vater je hätte verbinden können. Bis heute war er kaum in der Lage, sich mit seiner Sexualität auseinanderzusetzen, nicht einmal in der Therapie. Sein Therapeut versicherte ihm, er könne sich damit Zeit lassen. Er hatte das Thema nur einmal angesprochen, seitdem nie wieder. Er überließ es Cedric, und Cedric verschloss es immer tiefer in sich. Sein Vater hatte erzählt, dass er bei Hundert aufgehört hatte zu zählen, mit wie vielen Frauen er schon geschlafen hatte. Und dass er die Hundert zu Unizeiten hinter sich gebracht hatte. Er hätte sich einen Sohn gewünscht, der genau so war wie er.
Cedric hatte es nicht leidgetan, dass sein Vater verschwunden war. Seine Ermordung zwei Jahre später war ein Schock gewesen, die Trauer blieb aus. Der Streit mit Lillian um das Darney-Erbe aber belastete ihn so sehr, dass er sich schließlich Tabletten verschrieben ließ. Erst Tabletten, die ihn schlafen ließen, aber sie hielten die Angst nicht auf. Dann Tabletten, die die Grauen Tage fernhalten sollten, aber sie dämpften nur den Aufprall nach dem tiefen Fall, vertrieben nicht das Grau, hielten die Panik nicht auf. Wieder bekam er etwas anderes, wieder dauerte es Wochen, bis er herausfand, ob das neue Medikament wirkte.
Diesmal half es etwas besser. Die Grauen Tage kamen zwar noch, aber sie blieben seltsam auf Distanz. Cedric wusste, dass sie da waren, aber er konnte trotzdem aufstehen, trotzdem essen, trotzdem funktionieren. Die Panik blieb so lange aus, dass er sie fast schon vergessen hatte.
Bis sich abzeichnete, dass Lillian ihm alles nehmen würde. Sein Psychiater gab ihm Tabletten für den Notfall. Er nahm sie mittlerweile jeden Tag.
In den Gesprächen mit dem Therapeuten ging es nun fast nur noch um seinen Vater. Cedric wünschte sich, er wäre ihm egal. Er wollte abschließen mit diesem Mann, auf dessen Anerkennung er umsonst gewartet hatte und die er nicht bekommen hätte, selbst wenn er hundert Jahre alt geworden wäre. Vielleicht musste er erst Gewissheit darüber haben, was mit seinem Vater geschehen war. Wer ihn getötet hatte.
Sein Therapeut warnte ihn. Sagte, er müsse von sich aus einen Schlussstrich ziehen. Nicht einen äußeren Anlass suchen. Das könnte nicht funktionieren. Cedric glaubte trotzdem, wissen zu müssen, wer der Mörder war. Was er sich davon versprach? »Ruhe«, sagte er dem Therapeuten. Wieso ihm dieses Wissen Ruhe verschaffen sollte, konnte er nicht begründen.
Eine Weile hatte er versucht, sich damit
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