Das Ziel ist der Weg
widerfahren«, schreibt der Erzähler Paul Wilson. Tief ist die Eigenart von Pilgern, zu beobachten und zu beurteilen, mit ihrem Innersten verschlungen, mit dem, was sie ausmacht. Und dort ist der Ansatzpunkt für eine wirkliche Veränderung. In einer neuen Nähe-Erfahrung mit der Natur, dem Göttlichen und sich selbst findet sich plötzlich von allein eine Antwort auf ihre drängende Frage: Nicht die Frage hat sich gewandelt, wohl aber ihr inneres Erleben, das nun von einem neuen Standpunkt aus ganz anders zu antworten weiß. Ihre Grundfrage erstrahlt in einem neuen Licht. Gelöst und gelassen werden sie weitergehen können.
Wesentlich für diese Wandlung ist die Wanderung in der Natur. Sie öffnet Pilgern ihren »Weltinnenraum«, wie ihn Rilke beschreibt. Fern ihrer bisherigen Alltagsstrukturen empfangen Pilger neue Impulse aus dem Rhythmus ihrer Schritte, die den Rhythmus des Weges, der Hügel und Richtungsänderungen aufnehmen. Die regelmäßigen Schritte lösen seelische Blockaden in ihnen und öffnen ihren Geist für den seelischen Gehalt, der in allem ist, was sie umgibt. In Einheitserfahrungen mit der Natur werden Pilgern seelische Erkenntnisse tief zugänglich. Die äußere Natur widerspiegelt ihnen ihre eigene innere wahre Natur. Sie gewinnen ein neues Selbst-Verständnis, ein neues Verständnis ihres Selbst. Ein bekanntes Wort von Johann Wolfgang von Goethe lautet: »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken. Wär’ in uns nicht des Gottes eigne Kraft, wie könnt’ uns Göttliches entzücken?«
In der Natur, in dem, was Pilger von außen wahrnehmen, finden sie sich wieder. Ihr Empfinden der äußeren Welt spiegelt ihnen gleichsam ihre Seele und ihre innere Welt. Nur das, wofür sie empfänglich sind kann sie berühren. Nur das, wofür sie eine innere Entsprechung in ihrer Seele haben, kann in ihnen eine Saite zum Hingen bringen, bringt sie in Resonanz mit ihrer Umwelt. Bereits Origenes schreibt in seinem Kommentar zum Hohelied: »Diese sichtbare Welt enthält einen Unterricht über die unsichtbare Welt, und der irdische Bestand fasst in sich gewisse Gleichnisse der himmlischen Dinge, damit wir von Dingen, die unten sind Schlüsse zu ziehen vermögen auf jene, die im Himmel sind... und so kann man auch von allen andern Dingen annehmen, seien es Samen, seien es Wurzeln oder Tiere, dass sie zwar auf der einen Seite den Menschen einen leiblichen Nutzen und Dienst gewähren, andererseits aber Gestalt und Bild des Unsichtbaren enthalten, aus denen die Seele angeleitet werden kann, auch die himmlischen und unsichtbaren Dinge zu schauen.« Der Mystiker Jakob Böhme pflichtet ihm bei: »Wenn wir betrachten die sichtbare Welt mit ihrem Wesen, und betrachten das Leben der Kreaturen, so finden wir daran das Gleichnis der unsichtbaren geistlichen Welt, welche in der sichtbaren Welt verborgen ist wie die Seele im Leibe...«
Aus diesem Blickwinkel erfahren Schwierigkeiten der Vergangenheit eine neue Bewertung. Wenn alles eins ist, gehört die leidvolle Grundfrage eines jeden Pilgers, welche ihn auf den Jakobsweg gerufen hat, untrennbar zu ihm. Sie war Anlass, einen weiteren Entwicklungsschritt zu vollziehen. Irrwege und Umwege gehören zu jedem menschlichen Weg. Sie fuhren über den Schmerz des »Nicht-mit-sich-selbst-eins-Seins« zum Selbst, zum ureigenen Weg. Deswegen sind sie so wichtig. »Die Menschen, die den richtigen Weg gehen wollen, müssen auch von Irrwegen wissen«, schreibt Aristoteles.
Was Pilgern auf ihren leidvollen Wegen widerfährt, widerfährt ihnen demnach nur scheinbar. Es gehört zu ihnen, entsteht aus ihnen. Entsteht aus ihrem So-Sein, aus ihrer Seele, aus ihrer Persönlichkeit. »Was nicht im Menschen ist, kommt auch nicht von außen in ihn hinein«, hält Wilhelm von Humboldt fest, und Hermann Hesse verdeutlicht im Hinblick auf schmerzliche Erfahrungen: »Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.« In der Einheitserfahrung mit der Natur und sich selbst lernen Pilger, dass ihre bisher vermeintlichen Irrwege keine Irrwege waren, sondern Wege, die sie zu sich selbst geführt haben. Denn außen ist innen und innen ist außen. Erst in dieser intuitiven Erkenntnis finden sie zu sich selbst und vermögen Frieden zu schließen mit ihrer Vergangenheit, mit ihrer drängenden Frage, die sie auf den Jakobsweg geführt hat. Erst wenn sie die Einheit vom vermeintlich getrennten Innen und Außen tatsächlich erlebt haben, löst sich ihre innere Zerrissenheit
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