Das Ziel ist der Weg
esoterischen Pfaden Paolo Coelhos zu befinden. Ob sie wohl auch seine Antwort aus einem Interview kennen: »Wenn man sich entscheidet, eine Pilgerreise zu machen, dann ist das gut. Wenn man aber versucht, meine Pilgerreise zu machen, dann verschwendet man seine Zeit.« Da ist sie dahin, meine Gelassenheit der letzten Wochen. Die Menge und der hektische Lärm, die nervöse Aufbruchstimmung der vielen anderen nach Wochen der Einsamkeit und Ruhe gehen mir auf den Geist. »Sieht wohl so aus, als ob ich noch nicht ganz zur Erleuchtung gelangt bin...« Hoffentlich geht das nicht so weiter bis Santiago!
Santa María de Eunate: Im Abenddämmerlicht ist die Totenkirche der Templer nur schemenhaft zu erkennen, die Atmosphäre ist gespenstisch. Weiter nach Puente la Reina: Das Refugio ist übervoll, die Nacht verbringe ich im obersten Stock eines dreistöckigen Bettes. Draußen schlagen Regenschauer an die Fensterscheiben, drinnen schnarchen laut die Schläfer. Im Morgendämmerlicht über die 900 Jahre alte Pilgerbrücke, der Klang meiner Schritte auf dem Pflaster mischt sich in meinem Empfinden mit Tausenden von Pilgerschritten vor mir. Die spanische Strecke ist anders. Es ist nicht einmal die Sprache — die paar Brocken Jakobswegs-Spanisch für Unterkunft und Nahrung sind schnell gelernt. Die »Hola’s« und »Me llamo’s« ebenfalls. Der Rest geht erstaunlich gut mit Händen und Füßen. Nein, es sind die Heerscharen von Pilgern. Der Gegensatz zur Einsamkeit in Frankreich ist wie ein Sprung in einen eiskalten Pyrenäen-Gebirgsbach. Schon in Frankreich gewohnt, früh aufzustehen, bin ich froh, dass ich noch in der Dunkelheit der Begegnung mit den vielen Menschen entkomme.
»¡Hola! ¡Párate!« — »Hallo! Bleib stehen!« Ein älterer Mann sitzt im Schatten einiger Bäume kurz vor Los Arcos. Spätnachmittag, die Sonne drückt heiß von oben. Seit Kilometern nur Feldwege und Felder. Eine Dusche und eine Cerveza kämen mir jetzt recht. Der Mann winkt mich zu sich. »¡Aquel que tenga un bastón tan bello, necesitara de una calabaza!« — »Wer so einen schönen Stock hat, der braucht auch eine Kalebasse!« Ich schaue mit Zuneigung zu meinem Pilgerstock auf, der mich jetzt schon so viele Kilometer begleitet, während der alte Mann in einen alten Rucksack greift, eine Kalebasse, einen ausgetrockneten Flaschenkürbis, hervorholt und sie am oberen Ende meines Haselsteckens befestigt. Er strahlt über das ganze Gesicht und ruft mir zum Abschied nach: »¡Buen viaje!« — »Gute Reise!«
Die Methode scheint zu funktionieren: Ganz kleine Herbergen direkt hinter größeren Stationen. In Azofra sind wir nur zu zwölft, welche Erholung! Das schmucke Refugio lehnt sich an die Kirche an, hat nur ein paar Betten und eine Küche mit einer langen Tafel, an der wir in vergnügter und beinahe schon intimer Runde gemeinsam zu Abend essen. Das war gestern anders. Im Refugio in Logroño waren es wieder an die hundert Pilger. Aggressiv aufgeladene Atmosphäre bei der Verteilung der Schlafmöglichkeiten. Selbstverteidigungsstimmung auf dem Pilgerweg. In der Kapelle von Sensacq in Frankreich stand doch auf einer Notiz: »Der Jakobsweg ist der Weg, auf dem es keinen Ersten und keinen Letzten gibt.«
Hier in Azofra geht es anders zu als in Logroño. Fröhliche Gespräche an einer langen Tafel. Jeder trägt etwas zum Essen bei, Weinflaschen stehen auf dem Tisch, zwei Franzosen haben einen Aperitif gemixt. Christian und ich kochen. Ich stelle eine dampfende Schüssel »Knoblauchspaghetti al Azofra« mitten auf den Tisch: Der Duft von Knoblauch, Olivenöl, angebratenen Chorizo-Stückchen und händeweise Petersilie zieht durch den Raum. Alle essen lustvoll: Plötzlich wird es ganz still im Raum.
Meine Beine brennen. Im Gesicht die frische Abendluft von Villafranca Montes de Oca auf fast 1000 Metern über dem Meeresspiegel. In meinem Schlafsack liegend beobachte ich durch den dreieckigen Ausschnitt der zurückgeschlagenen grünen Zeltplane, wie die letzten Sonnenstrahlen sich vom Kirchturm zurückziehen. 51 Kilometer in den Oberschenkeln. In Azofra sind wir in tiefer Nacht aufgebrochen und verirrten uns auch sogleich. Mithilfe der Sterne über uns fanden wir dann die Richtung: Schotterpisten und abgeerntete Felder bis Santo Domingo de la Calzada. Weiße Hühner in der Kathedrale — besonders bizarr empfand ich die Kerben am hochhängenden Holzkäfig: Sie stammen von Pilgerstöcken früherer Zeiten und dem Versuch, eine weiße Feder zum
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