Das Ziel ist der Weg
auf Pistenwegen, durchqueren dann den alten Ortskern von Navarrete, passieren das romanische Portal des ehemaligen Pilgerhospitals San Juan de Acre beim Friedhof und gelangen schließlich in den malerischen Kreuzgang des Klosters Santa María la Real in Nájera, das vor roten Sandsteinfelsen gelegen ist.
Durch Weingärten erreichen sie den »schönsten Barockturm der La Rioja«, den Glockenturm von Santo Domingo de la Calzada. Der Ort am Río Oja geht zurück auf den heiligen Domingo, der hier im 11. Jahrhundert für die Jakobuspilger eine Herberge zum Schutz in den damals dichten Wäldern gründete und eine Brücke über den Oja baute. Im Inneren der ehemaligen Kathedrale Santo Domingo stehen die Pilger vor dem Grab des Heiligen und dem hölzernen gotischen Käfig mit zwei weißen Hühnern, die an das Hühnerwunder erinnern, das der Legende nach hier stattgefunden haben soll: Gebratene Hühner flogen im Mittelalter vom Tisch des Richters in Santo Domingo auf und zeigten so das Wunder an, welches der heilige Jakobus am Sohn eines deutschen Pilgerehepaars vollbracht hatte. Er hatte diesen am Galgen hängend gestützt, sodass der Sohn zur Überraschung seiner Eltern noch lebte, als diese bei ihrer Rückkehr von Santiago an seiner Richtstätte vorbeikamen. Unrechtmäßig war der Sohn verurteilt worden — eine lüsterne Wirtstochter war von ihm zurückgewiesen worden, hatte ihm einen Silberbecher im Gepäck versteckt und ihn daraufhin als Dieb beim Richter angezeigt.
Bis nach Villafranca Montes de Oca wandern die Pilger weiter durch endlose Felder, passieren Grañón, Redecilla und Belorado. Sie gehen hinauf in die Оса-Berge zur Passhöhe Puerto de la Pedraja auf 1150 Metern Höhe, und dann weiter auf Pistenstraßen, begleitet von duftenden Erika und Ginster, bis sie auf die einsame romanische Kirche von San Juan de Ortega stoßen. Der hier begrabene Heilige und Domingo-Schüler hatte den Ort als Zuflucht für die Jakobuspilger in der Wildnis ausersehen. Über Hügelketten gelangen die Pilger schließlich in die an Kirchen und alten Bauwerken reiche Stadt Burgos. Wenn sie im Innenraum der gotischen Kathedrale an eine Säule gelehnt die vielen anderen Pilger vor den zahlreichen Seitenkapellen vorbeigehen sehen, sind sie aus der bisherigen Einsamkeit ihres Weges auf die Pilgergemeinschaft aufgelaufen und haben sich in sie eingeordnet, ohne ihr inneres Anliegen zu verlieren.
Fassungslos lese ich 20-mal den gelben Schriftzug auf den blauen Hemden von 20 Brasilianern: »Santiago 2000«. Hoffentlich geht das nicht so weiter bis Santiago! Es war noch dunkel, als Christian und ich mitten in der Nacht starteten, vielleicht fünf Uhr, fünf Uhr dreißig. Durch das Tor von Saint-Jean und über die Brücke, der Fluss schickt von unten kühle feuchte Luft. Sonst Schwärze. Vor mir irgendwo die Berge. Als der Lichtkegel meiner Taschenlampe den ersten gelben Pfeil einfängt, schmunzle ich — die letzte große Etappe hat begonnen. Es waren mehr Pilger gestern Abend in der Herberge als in den Unterkünften vor Saint-Jean, wie viele, das war nicht zu erkennen. Wie die spanische Strecke wohl werden wird? Gelbe Pfeile, viel mehr Pilger, spanische Sprache, die Hitze? Schemenhaft lösen sich einzelne Hügelketten in abgestuftem Grau aus der Dunkelheit, als die Dämmerung anbricht. Der Weg zieht steil an. An einem Aussichtspunkt der Blick zurück. Pastellfarben geht die Sonne auf: Einige Hundert Höhenmeter unter mir das gewellte Baskenland — wie gestern liegt Frühnebel in den Tälern, darüber schräg die ersten, warmen Sonnenstrahlen. Verwunschene Abschiedsstimmung. Jetzt, da die Sonne am Himmel steht und die grüne archaische Landschaft der Pyrenäen sich aus der Dämmerung geschält hat, ist das Gehen einfacher. Stetig steigt der Weg. Klar und kühl ist die Morgenluft. Um mich herum nur Bergpanorama in Grün vor blauem Himmel. Kein Mensch zu sehen. Auch der Anstieg bisher ist völlig undramatisch. Irgendwann überquere ich die spanische Grenze. Eichenwälder abwärts. Plötzlich vor mir das Kloster Roncesvalles. »Solo Peregrinos, Only Pilgrims«, steht auf einem Schild an einer braunen Tür. Später Vormittag, 11:30 Uhr. Wir sind nur vier — so viele Pilger werden es schon nicht werden. Mein Wunschdenken hält gerade einmal ein paar Stunden. Dann brechen sie über die einsame Klosteranlage herein wie eine Springflut. Gegen Abend sind aus vier ungefähr 120 Pilger geworden. Davon 20 Brasilianer. Sie scheinen sich alle auf den
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