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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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reduziert. Radikal — zu ihren Wurzeln. Wenn sie sich an nichts mehr festhalten können als am Kontakt zur eigenen Mitte, stabilisieren sich Pilger in ihrem So-Sein, gerade weil sie in der Gefahr sind, sich zu verlieren: Die Leere reinigt von allem Äußeren und führt zu einer größeren Selbsterkenntnis. In das Vakuum dringen innere Schattenseiten des Selbst, um die innere Leere zu füllen und vom Leere-Empfinden abzulenken. Sie greifen sich Raum, werden plötzlich offenbar. Pilger stehen unvermittelt vor der Aufgabe, diese in Demut anzunehmen und zu integrieren. In der Begegnung mit den eigenen Dämonen stürzt das übersteigerte Eigenbild gewandelter Pilger: Der instinktive Kontakt zu sich selbst beinhaltet auch die Nähe zu eigenen dunklen Seelenfeldern, Es verlangt viel, dennoch bei sich zu bleiben, weiterhin die Aufmerksamkeit auf den eigenen Weg zu richten. »Die Wüstenväter lehren uns eine Spiritualität von unten. Sie zeigen, dass wir bei uns und unseren Leidenschaften anfangen müssen«, schreibt Pater Anselm Grün. Weil sie Menschen sind, gehört zu Pilgern trotz aller bisherigen Wandlung auch ihr Schatten. Dieser Erkenntnis können sie nicht ausweichen, sie müssen ein neues Verhältnis, eine neue Einstellung zu sich selbst gewinnen. In den Wüstenmomenten wird das Wort des Psychiaters Viktor E. Frankl deutlich: »Wenn wir eine Situation nicht ändern können, müssen wir uns selbst ändern.«
    Die Leere des Alltags führt jedoch nicht nur zur Konfrontation mit den Schattenseiten der Pilgerseele. Durch die Aufmerksamkeit auf die täglichen Verrichtungen bindet sie die Pilger auch wieder zurück an die materielle Welt. Jene Welt, die sie mit ihren Sinnen erfahren können und in der sie leben. Wie weit sie spirituelle Meditationen auch geführt haben mögen — aus dieser Welt sind sie aufgebrochen, und in diese müssen sie wieder zurückkehren, oder sie geraten in Gefahr, sich im Prozess einer ins Leere laufenden Wandlung zu verlieren.
    Wüstenlandschaften, Landschaften unendlicher Weite unterstützen diese Erfahrung des Auf-sich-reduziert-Seins in einer besonderen Weise. Der galizische Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch schreibt angesichts der galizischen Ebene: »Diese Ebene ohne Grenzen macht auf den Menschen denselben Eindruck wie das Meer. Der Mensch hat auch hier das Gefühl der Unendlichkeit, das er nicht fassen kann und vor der er sich scheu in sich selbst zurückzieht.« Oder wie Cees Nooteboom über die wüstengleiche Ebene der Meseta bemerkt: »Ich wurde einmal gefragt, weshalb ich die Landschaft der Meseta so schön fände. Weil mir so schnell keine Antwort einfiel, sagte ich, weil ich glaube, dass es in mir ebenso aussieht.«

    Der Jakobsweg von Burgos nach Léon steht im Zeichen der Meseta, der spanischen Hochebene: Wüstenhafte Weite, so weit das Auge reicht. Kein Baum, kein Strauch, kein Schatten, kein Wasser. Im Sommer brütende Hitze. Nur dann und wann ein kleines Dorf, das man ohne seine hoch aufragende Kirche leicht übersehen könnte. Häufig tragen die Dörfer im Namen den Pilgerweg — den Camino — und sind entstanden durch die Pilgerschaft nach Santiago: Links und rechts entlang des Jakobswegs wurden wenige Häuser gebaut. Der Pilgerpfad durchschneidet schnurgerade das Dorf, oftmals als einzige Straße, als sogenannte »Sirga peregrinal«.

    Die Pilger verlassen das verwinkelte Innere der Kathedrale in Burgos und folgen über Pistenstraßen den gelben Pfeilen bis nach Rabé de las Calzadas. Sie waschen sich am Brunnen auf dem Marktplatz den Schweiß vom Gesicht, durchqueren den Ort und befinden sich nach wenigen Kilometern auf der Hochebene der Meseta. Vorbei an der mächtigen Kirche von Hornillos del Camino, vorbei an den von Bauern in die Hänge gegrabenen Bodegas, vorbei an der in absoluter Einsamkeit liegenden Pilgerherberge San Bol ziehen sie weiter über die endlosen Weiten der spanischen Hochebene. Plötzlich taucht die Spitze eines Kirchturms aus der sonst wie mit dem Lineal gezogenen Horizontlinie auf. Steil gehen sie hinunter nach Hontanas, queren den Ort und steigen wieder auf die Hochfläche hinauf. Auf einfachen Pfaden gelangen sie schließlich zu den Ruinen des ehemaligen Antoniterklosters San Antón, ihr Weg führt sie direkt unter dem großen gotischen Bogen mitten durch die Nordvorhalle der Klosterruine hindurch. Nach wenigen Kilometern erreichen sie den Ort mit dem für Nicht-Spanier fast unaussprechlichen Namen Castrojeriz — schon Hermannus Künig

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