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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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Beschaulichkeit heraustreten; heraustreten aus dem Rahmen, in dem sie sich verändert haben und welcher der tief greifenden seelischen Wandlung günstig war: Abgeschiedenheit und der Raum der ungestörten Konfrontation mit sich selbst.
    Ihre bisherige Konzentration auf innere Wandlungsprozesse in Einheitserfahrungen verlagert sich nun nach außen: Plötzlich richtet sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf die anderen, auf die Gemeinschaft. Ihnen ist, als ob sie auf eine Wand aus Pilgern aufliefen: Der bewusste Kontakt mit den Bewegungen der vielen anderen bricht ein in die Schutzzone ihrer zurückgezogenen inneren Wandlung. Sie erleben sich herausgerissen aus dem Kokon ihres auf sich bezogenen Reifeprozesses. Nun gilt es für sie, sich als Neue wieder in eine Gemeinschaft einzuordnen: Nach den großen Etappen des Aufbruchs und der Seelenwandlung finden die Momente der Einheit mit der Natur und sich selbst jetzt im weiten Rahmen der Pilgergemeinschaft statt. In ihnen schwingt nicht nur die Fühlung mit dem eigenen Weg, sie tragen auch harmonische und disharmonische Obertöne im Zusammenklang mit den Wegen der anderen. Die vom Tiefenpsychologen Fritz Riemann beschriebene große Spannung scheint auf, »dass wir sowohl wir selbst werden, als uns in überindividuelle Zusammenhänge einfügen sollen«.
    »In der Gemeinschaft ist es leicht, nach fremden Vorstellungen zu leben. In der Einsamkeit ist es leicht, nach eigenen Vorstellungen zu leben — aber bewundernswert ist nur der, der sich in der Gemeinschaft die Unabhängigkeit bewahrt«, schreibt der Geistliche und Philosoph Ralph Waldo Emerson. Demzufolge ist der eigene, wesensgemäße Weg von Pilgern gefährdet, wenn sie aus der Einsamkeit ihrer Wandlung in die Pilgergemeinschaft eintreten. Ihr bisheriger Werde-Gang und ihre starke Verbundenheit mit sich selbst ermöglichen ihnen jedoch, auch inmitten anderer Pilger weiterhin in tiefer Berührung mit ihrem Inneren zu bleiben und Störsignale der anderen auszufiltern. Weil das neue Selbstverständnis der Pilger noch nicht stabil in der Welt verankert ist, verlangt der gemeinschaftliche Weg besondere Aufmerksamkeit für die eigene Einzelspur. »Denn in der Harmonie hat jeder seinen eignen Klang / und seine eigne Melodie im Weltgesang / Der Klang des anderen / und sei er noch so rein / ist nicht der seine / den muss er alleine / aus seines Herzens tiefster Quelle heben / den kann er nicht erlernen, nur erleben«, so der Lyriker Ephides schon in der Antike.
    Aus diesem Einklang mit sich selbst heraus vermögen es Pilger auch zunehmend, die wesensgemäßen Wege der anderen in ihrer Andersartigkeit zu respektieren und gemäß den Worten Friedrich Nietzsches zu akzeptieren: »Das ist mein Weg, welches ist dein Weg? Den Weg gibt es nicht.« Jeder Lebensweg und jeder Pilgerweg ist einmalig: »Der Jakobsweg ist so breit, wie er lang ist — jeder geht ihn auf seine Weise.« Die individuellen Pilgerwege unterscheiden sich sehr: in der Länge der Gesamtwegstrecke, in der täglichen Kilometerzahl, in der Höhe des Gewichts auf dem Rücken, in der spirituellen Bedeutung, die dem Pilgerweg zugemessen wird, in der Verwendung von modernen Hilfsmitteln und Vereinfachungen. Jeder, der auf einem Pilgerweg geht, geht seinen ganz persönlichen Weg, aus seinen ganz individuellen Motiven heraus, in seiner ganz eigenen Art und Weise, und erfährt so die für ihn anstehende Wandlung. »Pilgerhierarchien« sind vor diesem Hintergrund absurd. Jeder Weg verdient genau gleich viel Achtung. Aber gerade in der respektvollen Auseinandersetzung mit anderen und der Abgrenzung des eigenen Weges von den Wegen anderer wird deutlich, wie sich das ganz eigene So-Sein eines jeden in die Gemeinschaft einfügt, welchen Beitrag seine Existenz für ein größeres Ganzes leistet, was für ihn charakteristisch ist in der Spiegelung am anderen: »Alles kann man sich in der Einsamkeit aneignen, außer Charakter«, schreibt der französische Schriftsteller Henri Stendhal.

    In der Pilgergemeinschaft erfahren Pilger, dass es letztlich wesentlich ist, einander aus der jeweils eigenen Individualität heraus zu unterstützen und zu begleiten. »Wir sind nun einmal zur Gemeinschaft geboren. Und unsere Gemeinschaft ähnelt einem Gewölbe, in dem die Steine einander am Fallen hindern«, so Seneca. Die bisherige Wandlung, die neue Nähe zu sich selbst, konturiert sich erst im Licht der anderen, wird so erst erkennbar und für andere fruchtbar. Im Bild der Straße beschreibt dies

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