Das Ziel ist der Weg
Fallen zu bewegen, sie galt als außerordentlicher Glücksbringer auf dem Jakobsweg. Ein »¿Quien tiene la llave?« — »Wer hat den Schlüssel?« öffnet die Kirchentür und den beeindruckenden Blick auf das schöne romanische Taufbecken in Redecilla del Camino. Knoblauchsuppe und Tortilla am Rande der Nationalstraße. Belorado zu, es wird immer heißer. Hohes Tempo. Unter meinem breitkrempigen Pilgerhut rinnt mir der Schweiß über die Stirn und salzig brennend in die Augen. Eine Dusche, bitte eine kalte Dusche! Aber nein: Nach und nach treffen meine Begleiter in Belorado ein. Fast 40 Kilometer liegen hinter uns. Der freundliche Hospitalero erklärt uns — nachmittags um zwei Uhr dass die Herberge in Belorado schon voll sei, alle Schlafplätze auf dem Herbergsboden auch schon vergeben seien und wir die Nummern 20, 21 und 22 derjenigen zugewiesen bekämen, die nachher auf die verschiedenen Straßenecken verteilt würden. Ein kurzer Blick in die Runde, ein weiterer Blick in den Pilgerführer, die Rucksäcke geschultert und voran! Im zwölf Kilometer entfernten Villafranca soll es ein großes Zeltlager geben. Zwölf Kilometer sind eben zwölf Kilometer. Bei fast 40 Grad im Schatten ohne Schatten. Das war ein Tag. Meine Beine brennen. Der Kirchturm ist nun nur noch als Schattenriss zu erkennen und verschmilzt schließlich ganz mit der Dunkelheit. Ich schließe die Augen.
»Qu’est-ce qu’il у a dans ton petit livre?« — »Was steht eigentlich in deinem kleinen Büchlein drin?«, frage ich René in einem gemütlichen Lokal in Burgos und lüfte damit endlich sein Geheimnis bei einer äußerst wohlschmeckenden Portion Morcilla — Blutwurst ist die kulinarische Spezialität der Stadt. Der französische Mönch René hatte Hans, Joan, Christian und mich in dieses kleine Restaurant mitgenommen. In den letzten Tagen war er abends nach einem aufmerksamen Blick in sein handgeschriebenes kleines Büchlein immer ins Unbestimmte verschwunden. »Es ist so«, erklärt er mir mit verschmitztem Blick, »unter uns Mönchen geben wir die Adressen der Restaurants weiter, in denen man auf dem Jakobsweg das beste Essen bekommt...«
Leerlaufen
Von Burgos nach Léon
»Der Weg durch die Wüste ist kein Umweg. Wer nicht das Leere erlitt, bändigt auch nicht die Fülle; wer nie die Straße verlor, würdigt den Wegweiser nicht.«
Friedrich Schwanek
Wenn die Pilgerschaft ganz und gar Routine wird, erfahren Pilger ihre eigene innere Leere am intensivsten: Die bewegte Wandlung und der spannungsreiche Eintritt in die Pilgergemeinschaft liegen hinter ihnen, die Vorfreude der Ankunft ist noch viele Kilometer entfernt. Bisher auf ihrem Weg emotional aufgewühlt, ist ihre Gefühlswelt nun unbewegt wie die weite Oberfläche des Meeres bei Windstille. Ruhe nach dem Sturm. Monotonie. Alltag. Kilometer um Kilometer. Diese neuartige Erfahrung der Leere ist besonders intensiv: Schufen vorherige Momente innerer Leere Raum für den Kontakt zum eigenen Wesenskern, ist die nunmehr anhaltende Leere ohne neuen Inhalt. Leere Leere.
Sie zu ertragen, anzunehmen und zu gestalten, ist besondere Aufgabe für Pilger: Die Gefährdung des eigenen Weges liegt nicht mehr darin, sich dem Weg der Gemeinschaft aus zuliefern. Sie liegt nun darin, sich der Leere, der Routine hinzugeben; täglich teilnahmslos einen Kilometer nach dem anderen abzuspulen; sich selbst in der Weite des Weges zu verlieren, den Kontakt zur eigenen Mitte abreißen zu lassen. Das tiefe Gespür für sich selbst verliert sich so leicht, wie sich ein einsamer Pilgerweg in einer weiten baumlosen Ebene verliert. Es erfordert hohe Aufmerksamkeit, in der Monotonie der Pilgerroutine dennoch bei sich zu bleiben, das eigene spirituelle Anliegen und das instinktive Gefühl für den eigenen Weg durch die Alltagswüste nicht einzubüßen. Wüstenzeit.
Die Wüste war schon immer zweigesichtig: Ort der Einsamkeit, Ort der Stille, Ort der Kontemplation, Ort göttlicher Offenbarung. Aber auch: Ort der Dämonen, Ort der Versuchung. Letztlich ist die Wüste ein Ort der Prüfung und der Reinigung. Verlassenheit und Auf-sich-selbst-gestellt-Sein werden in der Wüste besonders spürbar. Wenn dauerhaft äußere Reize fehlen, bleibt die Konfrontation mit der eigenen Leere, dem inneren Nichts nicht aus. Die äußere Monotonie, die äußere Routine, das Immer-Gleiche ist die Prüfung, in der sich die innere Wandlung beweist: Pilger werden nach innen zur eigenen blanken Leere geführt. Sie werden auf sich selbst
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