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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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alles das, mit dem er dem Gesetz widersprach, ebenso schnell wieder. So sehe ich meinen Onkel nie als jemanden vor mir, der längere Minuten seines Lebens, egal was er eben getan hatte, von einem irgendwie schlechten Gewissen geplagt worden wäre. Es war immer nur seine Natur, die ihn auf all das hin geschaffen hatte. Zwar wußte er um Verbote, und er kannte die allgemeinen moralischen Verpflichtungen, die Anstandsgebote, die er stets mit der Vorstellung seiner eigenen Mutter verband, also, kurz gesagt, daß man immer ordentlich und anständig bleiben und der Familie keine Schande machen soll. Aber weil er so wehrlos war, ging er immer wieder unter. Allerdings tat er das auf seine eigene Weise, nicht auf die übliche, denn mit den üblichen Menschen hattemein Onkel nichts zu tun, mag da die Zange ein Glück oder ein Unglück gewesen sein. Andere in seiner Umgebung suchten stets Verbündete für ihre Schweinereien und schafften sich ein Ventil, indem sie zotig wurden. Zu zotigen Verbrüderungen neigte mein Onkel nicht, auch nicht in der Wirtschaft. Ich glaube, so etwas kam in seiner Welt gar nicht vor. Höchstens, um doch wieder irgendwo dazuzugehören. Er konnte auch keine Witze erzählen. Eigentlich konnte er gar nichts erzählen, nur von seiner Begeisterung für die Dinge konnte er erzählen. Und so sehe ich meinen Onkel als jemanden, der, während er aus Frankfurt nach Hause fährt, bereits wieder ganz auf Null gestellt ist und sich nur noch auf den Wald freut und das anschließende Bier, ordentlicher Tagesablauf, das macht man so, die Mutter soll es wissen, dann wird sie zufrieden und beruhigt sein. Wie ein Kind steht er jetzt am Zug, der pünktlich einfährt und pünktlich abfährt, ein Kind, das ganz ruhig ist, weil es weiß, es hat alles richtig gemacht der Bezugsperson gegenüber, mit der es immer in Verbindung steht, der Mutter, er hier am Frankfurter Bahnhof, sie in der Bad Nauheimer Küche, aber beide doch nicht weiter auseinander, als sich ein Entenjunges auf dem großen Bad Nauheimer Teich von seiner Entenmutter entfernt, beide stets in Hörweite bleibend. Die Enten müssen sich nicht sehen, sie können auch rufen. So ist das Entenjunge stets unter Aufsicht und inSicherheit und weiß sich geborgen und eigentlich noch im Paradies, und so war es bei meinem Onkel auch, die Mutter im Kopf, sie war immer anwesend, und er wollte vor ihr alles richtig und anständig machen. Auch wenn er vielleicht oft das genaue Gegenteil tat. So, wie ich ihn kennengelernt habe, war das sein einziges Glück, sein einziges wirkliches, bis zum Tod seiner Mutter, nämlich der Gehorsam ihr gegenüber, die nichts weiter von ihm wollte, als daß er anständig bleibe und niemandem eine Schande mache und vor allem auf sich aufpasse, am liebsten hätte sie ihn vermutlich sowieso nie aus dem Haus gelassen, aus Angst um ihn. Denn natürlich kannte sie ihn genau. Nur kam nicht alles zur Sprache. Einiges nie, bis zum Tod aller Beteiligten nicht, und daß sie die Dinge ungesagt mit ins Grab nahmen, war vermutlich die einzige Möglichkeit, die sie hatten.
    Mit seinem Vater muß es anders gewesen sein. Nach dem Rheinland mußte J. in der Firma helfen, unter den Augen seines Vaters, der ihn ja immer mit Mißfallen betrachtet haben soll. Wenn J. nach den Aushilfstätigkeiten seine drei Kilometer zu Fuß nach Hause zurückkehrte ins benachbarte Bad Nauheim, dann lief er den Weg, den ich in seinem Angedenken oder als sein Wiedergänger auch oft gelaufen bin in den letzten zehn Jahren, nämlich am Kühlen Grund vorbei und dann durch die Talaue an der Usa, unserem Fluß, entlang, bis hin zu den SchrebergärtenNauheims. Wenn man jetzt diesen Weg gehen will, kann man ihn gar nicht mehr gehen, weil da nun die Trasse der Ortsumgehungsstraße verläuft. Da, als dieses da noch existierte, lief mein Onkel entlang, um nach Hause zu kommen, also zu dem Haus, zu dem mein Großvater zur selben Zeit mit seinem Wagen fuhr, ich weiß nicht, welcher Marke, es war lange vor meiner Zeit. Damals, nach dem Rheinland, wurde mein Onkel größer und größer, er war nun schon siebzehn, achtzehn Jahre alt, aber seine Beine waren immer noch so dünn, als könne er kaum auf ihnen stehen und als müßten sie gleich zusammenbrechen. Auch die Ohren standen nach wie vor so ab, als wollten sie hinaus aus ihm, wie seine Augen. So lief er seine täglichen Kilometer durch die Wetterau und die Wetterauer Natur, das heißt über die Wiesen und die Felder, die die Bauern angelegt

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