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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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Urmotive. Ob er uns geschlagen hatte in seiner Weißglut oder ob er, Jahrzehnte zuvor, vom Vater oder den Bad Nauheimern geschlagen worden war, ohne etwas zu spüren außer der andauernden Demütigung, gleich darauf war er wieder wie ein Kind, in dessen Welt noch nichts Böses erschienen war. Als Jugendlicher stellte ich mir so immer einen Amokläufer vor: Es kommt einem sofort nach der Tat alles normal vor, bzw. man hat gleich wieder alles vergessen, unschuldig wie ein Neugeborenes, nur daß jetzt ein Leichenberg hinter einem liegt, was man nicht ganz begreift. Im Falle meines Onkels wären der Leichenberg wir gewesen, die Familie und vielleicht ganz Bad Nauheim, vielleicht sogar die ganze Wetterau, hätte er nur eine hinreichende Waffe gehabt. Anschließend hätte er vor dem Leichenberg gestanden und wieder einmal gewartet, daß ihm jemand sagt, wie es weitergeht. Allerdings war mein Onkel einer der ganz wenigen Menschen, die von sich aus nicht zum Sadismus neigten. Menschen um der Unterhaltung und der Freude willen zu quälen, das gab er nicht her. Wenn Schüler X am Boden liegt und es jedem im Augenblick des Tumults freigestellt ist, dem am Boden Liegenden noch einmal ganz ohne anschließenden Rechenschaftszwang in die Seite zu treten, dann hätte J. nicht zugetreten, er hätte keinen Bezug dazu gehabt, es wäre ihm ebenso fremd erschienen wie eine Oper von Wagner oder eine komplizierte Rechenaktion. Es kam in seiner Welt nicht vor. Lieber rettete man am Berg. Oder auf hoher See. Oder seinen Kameraden in Rußland (der Kamerad kann noch mit hinein in den eigenen Panzer, und dann unter Heldenmut wieder die eigenen Linien erreichen und in Sicherheit; Rapport, Lob und hohe Anerkennung, Medaille sogar). Ich kann ihn mir auch nicht vorstellen als jemanden, der spaßeshalber Insekten oder Singvögel zerteilt oder der, wie es bei uns in der Nachbarschaft früher üblich war, Meerschweinchen gegen die Wand wirft, um zu sehen, was passiert … ein Sport unter Kindern Anfang der siebziger Jahre, als Meerschweinchen in Mode waren. Fast alle Meerschweinchen in meiner Umgebung waren zum Tode verurteilt, wenn es Kinder in der Familie gab. Allerdings gab es immer Kinder in der betreffenden Familie, denn sie waren ja der einzige Grund, warum die Meerschweinchen überhaupt angeschafft wurden. Waren die Eltern aus und gingen essen zum allerersten Italiener in Friedberg oder zum allerersten Jugoslawen oder noch in die Schillerlinde oder ins Goldene Faß, dann flogen zu Hause die Meerschweinchen gegen die Wand, man sah es ihnen anschließend ja nicht an, sie waren nur tot. Das plötzliche Meerschweinchensterben, das die Eltern für eine Art von natürlichem Spontantod hielten, als habe das Meerschweinchen eine begrenzte Haltbarkeit, zuchtbedingt. Als müsse eigentlich ständig mit dem Ableben gerechnet werden, und dann kaufte man ein neues. Kaum ging ich in ein Nachbarhaus oder das Haus eines Mitschülers, war jedesmal wieder ein neues Meerschweinchen da. In anderen Häusern starben Kaninchen. Ein Nachbarsohn nahm sie am Schwanz, vielleicht auch an den Hinterläufen, ich weiß es nicht mehr genau, schwang sie durch die Luft und drosch sie dann an die Garagenwand, es floß mitunter Blut bei dieser Methode, denn die Wand war grob verputzt, und schon beim Schwungholen rieb das Kaninchen manchmal über den Putz, sei es mit Absicht, sei es ohne. Anschließend wusch man einfach die Wand ab. Von den Aberdutzenden Käfigvögeln ganz zu schweigen, die in meiner Nachbarschaft hinweggerafft wurden durch die Kinder, also die Menschen. Und immer schien es eine Art Generationenvertrag zwischen den Eltern und den Kindern zu geben, als sei Sinn des Haustiers, daß die Kinder im Kleinen üben könnten, was sie später im Großen zu erledigen hätten, es war eine Schlächterei wie im Bürgerkriegoder vielleicht eine Ersatzhandlung dafür, als gehörte das zum Menschen unabdingbar dazu, was sie ja vielleicht auch glaubten, auch wenn sie es nicht aussprachen. Nein, mein Onkel wurde nur dann aggressiv und schlagbereit, wenn er auf etwas reagierte, es mußte dem ein von außen kommender Reiz vorausgehen. Er neigte aber überhaupt erst in der zweiten Hälfte seines Lebens zum Zuschlagen, wenn er zu sehr gequält wurde, da quälten aber nur noch wir ihn, wir Kinder, die Bad Nauheimer schlugen bei ihm nicht mehr zu. Und genauso, wie er fremdes und eigenes Zuschlagen nach kurzem wieder aus seiner Erinnerung gelöscht hatte, vergaß er, stelle ich mir vor,

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