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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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der Mutter. Eine abschließende Brotzeit in der Wirtschaft. In Wöllstadt fährt draußen vor dem Zugfenster (der Zug rollt gerade langsam über einen Bahnübergang) ein Polizeiauto vorbei und hat das Blaulicht angeschaltet. Mein Onkel nimmt alles genau wahr, alles hat seine Wichtigkeit und seine Funktion und soll so sein, die Bahnschienen, die Bahnsignale am Übergang, das Polizeiauto, er nimmt es wahr und achtet auf alles, so wie andere vor einer Spielzeugeisenbahn stehen, bei der alles einen besonderen Wert hat, bei der alles, was man sieht, nach Plan dazugehört und so sein soll und stets in Ordnung bleibt. Da könnten zwei Züge frontal zusammenstoßen, und keiner würde sterben. So fährt mein Onkel durch die Wetterau, als sei es eine Eisenbahnwelt, und er braucht nicht einmal das Modell, er nimmt einfach das Original als Modell, und genauso ist es auch mit dem Polizeiauto und seinem Blaulicht. Es ist eines dieser Details, hinter denen besonders viel Mühe steckt, denn es müßte ja gar nicht da sein, das Polizeiauto (mit Blaulicht als Sonderfunktion), es ist aber da, wie eigens aus dem Katalog ausgesucht (Fleischmann? Märklin?). Schön, daß es da ist, sagt sich mein Onkel. Und da gerade fährt. Als wollte es meinem Onkel eine Freude bereiten.Eine komplette Welt. Mit vielen bestaunenswerten Kleinigkeiten, alle liebevoll zurechtgemacht, genauso, wie J. seine Schrauben im Keller feilt, auch liebevoll, mit Zuwendung, selbst die Pistolen im Halfter der Polizisten, sogar mit Firmenschild und genauen Patronen, noch die Halfter sind ein interessantes, beobachtens-, ja studierenswertes Detail. So ein Halfter hätte J. auch gern, allein nur schon das Halfter. Er wäre schon fast Polizist mit diesem Halfter. Vielleicht war es so: Vielleicht war die Welt für meinen Onkel immer so, als stünde er vor einer großen Spielzeugeisenbahn. Meistens muß er in einem Idyll gelebt haben. Meines Onkels Idyll, das nur in seinem Zangenkopf ein solches sein konnte. Mein Bruder hat wenige Jahre später dann tatsächlich eine riesige Spielzeugeisenbahnwelt in unserem Keller geschaffen, fast eine ganze Wetterau. Mein Onkel dagegen stand vor der Wirklichkeit auch als Erwachsener noch jederzeit wie ein Kind. Kaum sah er ein Polizeiauto und das Blaulicht drehte sich, bekam er seine Gefühle und seine Zustände. Die Polizei muß für ihn vor allem eine Art von Prachtentfaltung gewesen sein, wie die Armee, wie die Wehrmacht, wie die Zapfenstreiche, die er begeistert im Fernsehen schaute, das bestand alles in erster Linie aus Uniform und Paradewichs, aus Kavallerie und Panzeraufmärschen und dergleichen, und aus dem Monopol auf Blaulicht. Wohin sie gerade fuhren, die Polizisten dortin Wöllstadt, die Frage kam meinem Onkel vermutlich nicht in den Sinn, nur daß sie fuhren und Polizisten waren und das Blaulicht angeschaltet hatten, war wichtig, und soweit, genau soweit war die Welt auch gut und schön. Mein Onkel, stelle ich mir vor (ich kann es mir nicht anders vorstellen und habe es ja später selbst oft genug erlebt bei ihm), sieht die Polizei, und alles ist gut.
    Jetzt kommt er schon nach Friedberg. Überquert den großen Tunnel, kommt an der Zuckerfabrik vorbei, am Hanauer Hof, sieht schon den Adolfsturm, die Burg, den Burgberg, die alte Häuserzeile am Bahndamm (vor der heute das neue Friedberger Parkdeck steht, selbst schon uralt geworden in den letzten zwanzig Jahren), dann sieht er, nun in der Biegung, die Steinwerke Karl Boll und könnte seinem Vater schon wieder auf den Kopf spucken, lebte er noch, aber er ist bereits 67 gestorben, zwei Jahre vor dem Erscheinen der Boeing 747, mit der die lang ersehnte Zukunft endlich zur Gegenwart wurde und die Menschen endlich überallhin konnten, wohin sie nur wollten. Die Boeing 747, der Traum der Menschen. Da lag mein Großvater, sein Vater, bereits unter seinem eigenen Grabstein, und keiner war mehr da aus der Familie, seinen Namen einzugravieren, denn er war der letzte Steinmetz in unserer Familie gewesen, seinen Namen gravierten jetzt die übriggebliebenen Angestellten.
    Mein Großvater kannte die Boeing 747 nicht, und er hatte doch auch leben können. Er hatte ein ganzes Leben gelebt auch ohne Boeing 747.
    Nun steht dort unten J.s Schwester und leitet den Betrieb, J. könnte also ihr auf den Kopf spucken von da oben, das würde er aber nie tun. So viel, wie seine Schwester für ihn gemacht hat! Jetzt ist sie verheiratet und hat drei Kinder und einen Rechtsanwalt als Mann und daher noch

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