Das Zimmer
jeden Fall mit Spritzmaschine (zehn oder zwölf Meterbreit ist so eine Spritzmaschine, und als Spielzeug eigentlich noch breiter, die Spritzmaschine sieht selbst fast aus wie ein Flugzeug). Dazwischen im Vorgarten natürlich immer mehr kleine Matchboxautos, denn auch für die Kinder wurde das Fahren immer wichtiger und ersetzte in der Wetterau wie andernorts bald alles andere schon lange vor der ersten Ortsumgehungsstraße. Selbst die Schießgewehre (»Du bist tot!«) wurden links liegengelassen, als die Automobilmodelle kamen. Bald fuhren alle, auch im Spiel. In meiner Kindheit saßen die Wetterauer Kinder zu Hause herum, noch ohne Ortsumgehungsstraße, und übten sich schon in die Zukunft ein mit Carrerarennautobahnen mit Doppellooping, wer ist schneller, sogar im eigenen Zimmer war da schon Wettkampf auf der Straße, und heute fahren sie alle wirklich, und in ein paar Wochen ist sie fertig, die Ortsumgehungsstraße. Aber noch ist 1969, und mein Onkel sitzt im Zug. Und oben fliegt ein kleines Flugzeug, kommt einem womöglich aus Ockstadt entgegen, vom damaligen Flugplatz. Auch das war ein Ort für den Onkel, der Flugplatz mit Aussichtsterrasse und angeschlossener Bierstube, als der Segelflugclub von Ockstadt an den Bad Nauheimer Waldrand umgezogen war, hinter den Johannisberg. Dort kann man, solange man will, zwischen den eingepackten und ausgepackten Flugzeugen herumlaufen, man kann sie sogar anfassen. Nur fliegen kann sie mein Onkel nicht, dafür aber kann er die bewundern, die sie fliegen. Oder wie sie dann später Bier trinken. Und ihre Geschichten erzählen. Es gibt viele Segelflieger in Bad Nauheim, sie kommen aus der ganzen Region. Das ist ein besonderer Vorgang, wenn sie hochgezogen werden von einer Maschine, verbunden mit einem Seil, das dann ausgeklinkt wird, da kann mein Onkel stundenlang hinschauen, ein Manöver in der Luft, gemeinsam, genau eingeübt. Man steht oder sitzt und wartet, bis beide Maschinen starten, dann steigt auch schon die Aufmerksamkeit, geradezu Spannung ist es jetzt, da beide in der Luft sind, und dann kommt der Punkt, wo das Seil gelöst wird, und auch die Spannung löst sich, alles hat geklappt, und das Segelflugzeug segelt davon, wer weiß wohin, vielleicht in die Pfalz, vielleicht nach Thüringen oder bis nach Frankreich. Motorsegler machen dieses besondere Manöver mit den zwei Maschinen nicht, die kommen von allein hoch, das ist zwar nicht so interessant, dafür haben sie aber auch Motoren und sind fast schon wirkliche Flugzeuge. J. bewundert sie, weil sie einen Propeller haben, fast schon wie eine Messerschmidt im Krieg, oder eine Focke-Wulf. So kommt J. also das kleine Flugzeug entgegen und grüßt ihn, meinen Onkel im Zug von Frankfurt nach Bad Nauheim. Ob er je in seinem Leben geflogen ist? Ich glaube nicht. Dieses Glück war ihm wohl nicht vergönnt. Ich weiß nicht einmal, ob er je den Frankfurter Flughafen gesehen hat, es wäre zumindest ein großer Tag für ihn gewesen. Aber seine Mutter flog ja nie. Wohin hätte sie fliegen sollen? Die einzigen Reisen, die sie unternahm, waren die nach Freiberg, zu ihrer Schwester und zum Tante Lenchen. Und die machte sie immer mit dem Zug, ohne J. So kam mein Onkel vielleicht nie zum Flughafen. Aber vielleicht kam er doch dorthin, und sie machten hin und wieder aus Mitleid, weil sein Wunsch so groß war, einen Ausflug zur Panoramaterrasse des Flughafens, wo man die Maschinen starten und landen und herumfahren sehen konnte, die großen Maschinen und die allergrößten. Da stehen die Bolls dann auf der Terrasse, ein Familienausflug mit Schwiegersohn und Kind und Kegel, wie damals üblich, und J. war glücklich und kaufte Postkarten von den Maschinen als Andenken an den großen Tag, da, die Boeing 737 zum Beispiel! Eigentlich ist es undenkbar, daß mein Onkel sich nicht ausgekannt haben soll mit all diesen Flugzeugen. (Die Boeing 747 gab es damals noch nicht, sie kam erst 1969 und war gleich der Schwarm aller Modellbaukinder und eigentlich der Menschheit überhaupt.)
Jetzt ist auch die kleine Maschine schon wieder weg, und der Zug kommt nach Karben, nach Wöllstadt und fährt immer weiter, mit meinem Onkel darin, der heute nicht an den Flughafen kommen und keine großen Linienmaschinen sehen wird, der auch nicht die Übertragung vom aktuellen Mondlandeflugschauen wird, aber dennoch freut er sich auf nachher, Feierabend und Wald und Bier, und vielleicht später noch etwas Zünftiges zu sich nehmen nach dem frühen Abendessen zu Hause bei
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