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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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mehr Autorität als vorher. Jetzt bauen sie da unten schon ihr großes Haus, J. kann es sehen, gerade wird das Fundament gelegt, in Betonwannentechnik, die Apfelbäume sind schon weg und die Ställe auch, kein Huhn mehr da, man muß jetzt nicht mehr selbst schlachten. Da kommt bald ein Ziergarten hin, und der Gatte wird »Mein Garten«-Abonnent werden und jeden Morgen seinen Dienstwagen aus der Garage (noch steht sie nicht) fahren und jeden Abend wieder in sie hinein. Den Rest der Zeit wird er in Frankfurt verbringen, da ist er jeden Tag. Er regelt inzwischen, nach dem Tod des Steinmetzen, alles für die ganze Familie, auch sämtliche Erbschaften. Daran muß sich J. jetzt gewöhnen, daß es eine andere Respektsperson gibt, den Schwager. Eigentlich ist der jetzt der Chef. Aber die Firma ist nun auch schon wieder aus dem Blick, und noch einmal geht es über Felder, von denen aus man linkerhand weit übers Land schauen kann, bis nach Ockstadt (sind die Kirschen schon reif? oder ist es schonHerbst?) und bis zum Taunus, bis nach Rosbach, alle die Orte noch klein, noch kurz vor der Explosion. Noch sind sie näher am Krieg und an der Vergangenheit als an uns, der Zukunft. Noch sind es erst vierundzwanzig Jahre nach der großen Zeit, die dann auch wieder nicht mehr sein sollte, weil sie plötzlich keiner mehr wollte. Aber noch sieht vieles aus wie damals. Selbst die Firma sah bis vor kurzem noch fast aus wie damals. Erst mit der Heirat seiner Schwester beginnt recht eigentlich die Zukunft (in fünf Jahren wird es die Firma schon nicht mehr geben, heute stehen da überall weiße Reihenhäuser mit roten Dächern, wie aus dem Spielzeugeisenbahnkatalog, jetzt sieht schon fast die ganze Wetterau so aus). Aber noch liegt Ockstadt klein da, und von Rosbach ist sowieso kaum etwas zu erkennen, und dazwischen überall Felder oder ein paar Bäume, und ganz hinten, aber da müßte man sich schon aus dem Zugfenster hinausbeugen, wäre auch die Sauweide zu sehen mit den Apfelbäumen mitten in der Landschaft zwischen Friedberg und Ockstadt, rot leuchtende Äpfel, die die Ockstädter vielleicht gerade herunterschütteln, wenn es Ende September ist. Oder es ist Frühling, und die Apfelbäume blühen gerade, weiß und rosa. Und auf die Minute pünktlich kommt nun der Zug meines Onkels in der Kur- und Badestadt Bad Nauheim an, in der schon der Zar zu Gast war und Einstein und Kaiserin Sissi, in der mein Onkel fast direkter Nachbar von Elvis Presley war, jahrelang, zwei Häuser weiter, auch Heino war hier, und nun beginnt für meinen Onkel der Rest des Tages. Ein langer Feierabend schon ab dem frühen Nachmittag.

5
    J. erreicht eine Stadt in sanftem Niedergang. Hier war früher der Zar gewesen, im selben Bahnhof stieg er aus, man hatte ihm ein eigenes Zarenbad errichtet, da durfte sonst niemand hinein (heute kann man es besichtigen). Allerdings war der Zar nach ein paar Jahren dann auch schon tot, erschossen in Rußland. Bis heute reden sie in Bad Nauheim von ihm, als hätten sie ihn noch gekannt, persönlich und von Tür zu Tür, wie mein Onkel Elvis Presley kannte. Wie der Zarensohn ganz in Weiß auf seinem Fahrrad durch den Kurpark … wie die Zarenfamilie hochherrschaftlich im Wagen auf der Promenade … ein so netter, ein so freundlicher Herr, man kam aber nicht ran, er war ja immerhin Zar, Leibgarde, stets flankiert, und welche Cafés hat er aufgesucht? Ging er ins Mirwald (gab es das schon?), ging er zum Aliceplatz ins Café Müller (hängen da nicht Bilder von ihm?), oder blieb er den Cafés fern? Trank er Apfelwein? Vielleicht trank erst ein Vorkoster Apfelwein, oder jemand von seiner Leibgarde, um sicherzustellen, daß das auch ja nicht ein Anschlag auf die körperliche Unversehrtheit des Zaren … und dann haben sie den Leibgardisten einer genauen Untersuchung unterzogen, habenbeobachtet, was passiert, was der Apfelwein so tut. Noch keine Wirkung? Dann schnell noch ein Glas (Schoppen) hinein in den Leibgardisten. Weiter beobachten! Da sitzt er, der Leibgardist, der russische, in Bad Nauheim in der Wetterau (seit über einem halben Jahrhundert war es da schon Kurbad), auf einem Sessel möglicherweise oder nur einem Holzstuhl, vielleicht muß er auch stehen, und horcht in sich hinein, was passiert, denn er weiß ja gar nicht, was das ist, dieser Apfelwein, vielleicht hat das ein Bad Nauheimer ersonnen, um alle zu töten, die ganze Zarenfamilie, und alle Bad Nauheimer haben sich nur verschworen und tun so, als tränken sie immer
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