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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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Da trifft man seinen Kurnachbarn oder seinen Kurschatten oder einen neuen Kurgast. Man soll sich vor die Gradierwerke setzen und tief einatmen. Die Luft ist salzhaltig. Zwei Stunden am Tag, gern auch mehr. Und wer so sein Tagessoll erfüllt hat, geht anschließend um so beruhigter und zufriedener ins Tanzlokal oder zum Apfelwein oder, wenn er nicht in Gesellschaftslaune ist, in eine der diversen Kurpensionen zurück, da hat meine Großmutter, Onkel J.s Mutter, anfänglich auch noch gearbeitet, ihre Mutter hatte eine Kurpension, Pension Augusta, direkt am Kurpark, da kam der Zar damals auch immer vorbei, wenn er seine Ausfahrt mit der Kutsche machte. Vielleicht geht man in den Gemeinschaftsraum und schaut fern. Gibt es wieder Mondfahrt heute? So steht mein Onkel am Bahnhof der zu dieser Zeit durch eine Armee von Kurgästen in Freizeitschuhen besetzten und besessenen Stadt. Auch am Bahnhof verkehren sie, holen sich Zigaretten, holen sich vielleicht auch ein Heftchen, abends spät sind sie dann meistens allein, ihre Ehefrauen sind in Düsseldorf oder Nürnberg oder Moers, aber es gibt in jeder Pension einen Zimmerdienst, und sehr schnell merken sie, daß man auch dort die Dinge (das Leben) geheimhalten muß, keiner hat einen Darkroom wie mein Onkel. Sie kommen nach Bad Nauheim, und gleich ist es wieder Sehnsucht nach dem Leben, vom Magazin bis zum Kurschatten und dem Tanzlokal, in welcher Reihenfolge auch immer.
    Mein Onkel riecht nun schon seit Stunden auffällig, und mit einem gewissen Wichtigkeitsgefühl macht er sich auf seinen Heimweg von acht Minuten. Er empfindet das Gefühl von Wichtigkeit, weil er arbeiten war, es war ein ganz normaler Arbeitstag, er verdient sein Geld wie jedermann und ist auch fast Beamter, er könnte beinah eine Uniform tragen, und geht er in Bad Nauheim zur Post, fühlt er sich eigentlich wie unter Kollegen, am liebsten hätte er mitihnen gefachsimpelt (was allerdings die Postbeamten in der Bad Nauheimer Post nie verstanden hätten, sie wußten ja nicht einmal, daß auch er bei der Post arbeitete). Ein Gefühl von Wichtigkeit auch deshalb, weil er sich alles, was folgen wird, für den heutigen Tag ordnungsgemäß und vorbildlich und richtig und wirklich verdient hat: den Feierabend. Und die Mutter wird zufrieden sein (er war ja nicht im Kaiserstraßenviertel! oder vielleicht doch, aber vielleicht nur ganz kurz, nur einmal hinein und gleich wieder hinaus, aber das weiß ja niemand, und er selbst hat es auch schon wieder vergessen, wie nie geschehen, und war es denn?). Kam nicht auch sein Vater immer genau so von der Arbeit? Stolz kommt man von der Arbeit zurück, erhobenen Hauptes. Man hat seine Arbeit getan. Genau wie die Bergrettung am Berg. Und nun geht er nach Hause. Dort erwarten sie ihn. Wer arbeitet, wird zu Hause erwartet. So schreitet er Richtung Uhlandstraße, es gehen ganz verschiedene Dinge in seinem Kopf vor, er malt sich sein Leben als ein gelungenes und normales und vorbildliches aus und ist wie an jedem Tag, wenn er von der Schicht heimkehrt, ergriffen davon, daß er gerade von der Schicht heimkehrt. Aus Frankfurt, wo täglich Tausende an ihm vorbeiströmen, unbeschäftigt, er aber hat seinen Dienst und seine Funktion. Es muß alles ordnungsgemäß so sein und ist auch so. Alles an seinem Platz, auch er. Die Zeit, als die Familie ihn nochnicht nach Frankfurt geschickt hatte, hat er längst vergessen. Onkel J., einer wie jeder mit Funktion und Aufgabe. So schreitet er heim, stelle ich mir vor.
    Mein Onkel schließt die Haustür der Uhlandstraße auf, wie ein Familienvater, wenn er von der Arbeit heimkommt. Der Mann im Haus. Und inzwischen sogar der einzige, denn der Firmenchef, Wilhelm Boll, ist schon zwei Jahre tot. So kommt J. heim. Als hätte alles wenigstens einmal gut und richtig für ihn sein können: Er, der Herr im Haus, und später holt er den Variant aus der Garage (am besten eine halbe Stunde bevor er ihn braucht, dann steht er schon da), und dann fährt er ins Forsthaus Winterstein, um unter den Männern zu sitzen, Bier zu trinken und ihre Geschichten zu hören, als gehörte auch er dazu.
    Als hätte alles wenigstens einmal gut und richtig sein können.
    Nur leider hatte es nicht nur die Zange an seinem Kopf gegeben, sondern stets auch die anderen Menschen.
    Sein Schwager ist da. Mit J.s jüngerer Schwester, seiner Frau. Der Schwager, der Rechtsanwalt. Überhaupt ist der Schwager in letzter Zeit oft da, seitdem J.s Vater tot ist. Sie sind jetzt überall, und sie
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