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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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Apfelwein, dabei ist es Gift? Und jetzt springt er auf, der Leibgardist, und hat die Hand schon am Hosenbund und rennt davon, wo sind denn hier die Klosetts? Ganz schnell rennt er. Und der Zar, so viel ist sicher, wird niemals in seinem Leben Apfelwein trinken, man rät ihm ab. Einige Jahre später ist er trotzdem tot, und in Bad Nauheim empfinden sie Trauer, lief er doch vor kurzem noch hier herum, durch den Park. Der arme Zar. Keiner kannte ihn. Alle reden von ihm. Eine öffentliche Figur. Was wäre Bad Nauheim ohne seine öffentlichen Figuren? Die depressive Sissi, die man nicht fotografieren durfte, so alt war sie schon! Wohnte in der Burgallee, wo jetzt ein Betonhaus steht, viergeschossig. Mein Onkel steht am Bahnhof, an dem schon der Zar stand, und schautüber den Sprudelhof und seine beiden Sprudel hinauf zum Johannisberg, genau wie der Zar. Rechts an den Johannisberg schließt sich der Frauenwald an, da geht mein Onkel gern hin. Links steigt der Winterstein empor, vielleicht steht 69 schon der Sendeturm auf ihm. Das fasziniert meinen Onkel: wenn er den Fernseher anschaltet, weiß er, das Bild kommt vom Winterstein. Auch die Störungen im Sendegebiet genießt er, dann erscheint nämlich das Testbild, und dann beginnen sie, wie er glaubt, auf dem Winterstein mit einer ganz emsigen, fachmännischen Tätigkeit, damit bald wieder ordnungsgemäß ins ganze Sendegebiet gesendet werden kann. Aber was noch wichtiger am Winterstein ist als die sendetechnisch fachmännische Versorgung des gesamten hiesigen Sendegebiets mit dem fortlaufenden Programm der Sendeanstalten ARD und ZDF von nachmittags bis zum späteren Abend, ist das Forsthaus Winterstein, auf halber Höhe und hier, vom Bahnhof aus, nicht sichtbar. Im Winter sieht man von hier aus im Sprudelhof nur Gischen und Dampfen, denn die beiden Sprudel sind warm. Der eine steigt höher als der andere. Ohne diese beiden Fontänen (weiß es mein Onkel?) wäre aus Bad Nauheim gar nichts geworden, ohne sie wäre die Kaiserin Sissi nicht gekommen, ohne sie hätte Einstein hier nie an Kongressen teilgenommen, ohne die beiden Fontänen wäre der Zar mitsamt seiner Familie nie in Bad Nauheim gewesen,auch Hans Albers nicht, die amerikanische Armee hätte hier nie die Rundfunkstation gebaut, Bad Nauheim wäre nie von der US Army besetzt worden, Elvis Presley wäre nie rumpelbesoffen im drei Kilometer entfernten Friedberg aus dem Zug gestiegen, um in Bad Nauheim zunächst eine Hotelsuite und dann eine Wohnung schräg gegenüber dem Zimmer meines Onkels zu beziehen. Bad Nauheim wäre immer noch bloß Nauheim und kein Bad. Und dennoch hätten sie alle auch so gelebt, irgendwie, wären dennoch auf die Welt gekommen und wieder gegangen, und wäre Bad Nauheim damals nicht eine Medizin- und Kur- und Badestadt gewesen, wäre meinem Onkel vielleicht auch nie die Zange an den Kopf gesetzt worden. Dann wäre seine Welt eine andere geworden. Nun, Ende der sechziger Jahre, kommt kaum noch eine Berühmtheit hierher. Meistens laufen die Gäste in saloppem Grau-Beige herum. Das öffentliche Bild Bad Nauheims wird zur Zeit meines Onkels vom Kurgast auf Krankenkassenbasis bestimmt. Der Kurgast sitzt auf Bänken herum, bisweilen halbe Tage, die Bänke stehen überall in Bad Nauheim. Die vornehmliche Beschäftigung des Kurgastes ist das Sitzen. Auch der Sprudelhof ist als große Sitzanlage gebaut, man sitzt in schattigen Jugendstilgalerien und schaut den Sprudeln beim Sprudeln zu. Man geht zum Sauerbrunnen, läßt sich ein Glas vom Sprudelwasser geben (nicht zuviel! genau abmessen! sonstfällt man um), dann setzt man sich in die Trinkkuranlage und sitzt herum oder hört währenddessen dem Kurorchester zu, das ungarische Melodien spielt, wie zu des Zaren Zeiten, aber heute mit Elektrobaß und nur noch in kleiner Besetzung. Vielleicht ist auch schon ein Schlagzeug dabei. Aber nur mit dem Besen gespielt. Nicht so laut. Ein sanftes Rühren im Hintergrund, man kann dabei wegdösen. Wenn das Wasser nur nicht so scheußlich schmecken würde, denken sie alle. Es ist aber Bestandteil der Kur. Dafür kann man dann abends ins Deutsche Haus gehen und Apfelwein trinken. Man trinkt einen Apfelwein, auf jeden Fall auch einen Wacholder, und dann noch einen Wacholder mit dem Wirt, und schließlich einen Wacholder auf die schöne Stadt Bad Nauheim. Jeder Abend ein Abend ohne Aufsicht und ohne Anwendungen, man trinkt sich regelmäßig unter den Tisch. Aber vorher geht man als Kurgast noch einmal zu den Gradierwerken.
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