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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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haben auch schon drei Kinder (darunter ich). Eben noch hat es die alle gar nicht gegeben, und jetzt sind sie plötzlich da und gehören auch dazu. Eben noch hatte es nur die Schwester gegeben, und jetzt sind es schonfünf. Sie hat sich verfünffacht. Sie sind jetzt selbst eine Familie. Da ist also aus der alten Familie einfach an einer ganz bestimmten Stelle eine neue Familie herausgewachsen, und die sind jetzt eigentlich die Familie, denn die Bolls sind im Handumdrehen plötzlich schon kaum mehr da. J.s Großvater Karl ist vor zwei Jahren gestorben, im selben Jahr auch der Vater, Wilhelm, nur wenige Monate später, macht zwei Bolls weniger. Und die Schwester heißt jetzt anders. Macht in gewisser Weise sogar drei weniger. Es bleiben als Rest nur noch die Mutter und der jüngere Bruder. Erstmals bekommt J. eine Vorstellung davon, was Zukunft heißt. Vorher war eigentlich immer alles gleich, es gab die Familie, den Vater Wilhelm, den Großvater Karl, das Haus, das Zimmer, die Firma, da war immer der Vater der Chef und der Großvater der Seniorchef gewesen. Und er immer dort und zwischen ihnen allen, mal im Haus in Bad Nauheim, mal in der Firma. Nach Frankfurt fährt er ja auch erst, seitdem der Vater tot ist und der Schwager das Sagen hat, der Schwager und die Schwester. Kaum war der Vater tot, hat ihm der Schwager die Arbeit in Frankfurt verschafft. Endlich sollte auch J. einmal ordnungsgemäß irgendwo untergebracht werden. Mit des Schwagers weitläufigen Kontakten ging das. Das hätte der Vater nicht geschafft. Eine Arbeit in Frankfurt vermitteln, so weit reichte der familiäre Horizont gar nicht vor dem Schwager. Kaum war der Schwager da, wurde alles anders. Eigentlich ist er nun fast täglich da, so viel gibt es zu regeln. Dokumente werden gesichtet, Ordner geöffnet, Briefe gelesen. Man muß sich einen Überblick verschaffen, auch über das Vermögen, wer sollte das sonst tun, und einer muß ja. Die Schwester leitet jetzt die Grabsteinfirma und ist der Chef. Und der Schwager regelt alles andere. Schon bauen sie ein Haus. So jemanden hat es in der Familie noch nicht gegeben. Was wären sie ohne den Schwager? Und nun, J. hat eben Feierabend und kommt nach Hause, ist der Schwager da, und J. gerät automatisch in eine gewisse Duckhaltung, wie immer, wenn er seinen Schwager sieht. Nicht anders als es bei seinem Vater gewesen war, wenn dieser ihn ansprach. Immer wenn J. den Schwager sieht, erwartet er einen Befehl. Denn seitdem sein Schwager in der Familie ist, gibt es immer irgend etwas zu tun. Es sind nun der Vater und der Großvater zu ersetzen, und der Schwager verteilt die Aufträge. Meistens wirkt er geschäftsmäßig, denn er hat immer etwas im Sinn, eine nächste Aufgabe. Er muß ja nun auch die ganze Familie lenken. Das ist ganz natürlich so geworden und hat sich so entwickelt: daß er nun das Familienoberhaupt ist, wenn auch unausgesprochen. Und eigentlich sind es ja auch keine Befehle. Sondern er hat immer bloß recht, mit allem was er sagt und aufgibt, denn er sieht die Dinge klar und weiß Bescheid. Das Leben besteht aus Aufgaben (und nicht aus dem Forsthaus Winterstein), besonders wenn man schon eine fünfköpfige Familie hat und dann noch eine andere Familie verwaltet, die der Schwiegermutter. Da hat man immer das nächste Ziel bereits vor Augen. Das muß so sein! Und aus was für einer Familie er kommt! J. hat das Gebäude in Frankfurt gesehen, die Oberfinanzdirektion, überhaupt eines der größten und modernsten Gebäude, die er je gesehen hat. Eigentlich hatte er damals noch nie so etwas gesehen, riesige Gänge, riesige Treppen, nach überallhin, wie ein Zentrum der Welt fast, wo alles geregelt und geordnet und in Gang gehalten wird und alles funktioniert, weil jeder an seinem Platz ist und jeder es weiß. Und irgendwo mitten in diesem riesigen Gebäude sitzt der Chef von alledem und heißt Oberfinanzpräsident. Der erste Präsident, den J. kennengelernt hat. Der Oberfinanzpräsident kam erstmals vor zehn Jahren, noch Ende der fünfziger Jahre, in die Wetterau und nach Bad Nauheim, um im Haus in der Uhlandstraße die Werbung seines Sohnes um die Tochter der Familie Steinwerke Karl Boll zu unterstützen, ein großer Mann mit Dienstwagen. Dieser Dienstwagen hatte vier Standarten, so etwas hatte man in der Uhlandstraße noch nicht gesehen. Und kurz darauf war das ganze Haus bereits voller Berühmtheiten. Der Oberfinanzpräsident (mein Großvater väterlicherseits) arbeitete eng mit der amerikanischen
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