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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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Fotos der alten, längst verstorbenen Bolls. Mehrere davon standen auf dem Schreibtisch. Da war auch ein fremder Mensch in Uniform, vor einer fremden Landschaft, vielleicht draußen in Rußland, vielleicht daheim im Reich, man sah es der Landschaft nicht an, der Mensch in Uniform war ebenfalls tot. Oder das Bild eines jungen Mädchens mit blonden, dicken Zöpfen, das munter in die Kamera blickte und auf dem Bild deutlich älter war als ich zu dieser Zeit. Meine ganze Kindheit konnte ich nicht recht glauben, daß dieses junge Mädchen mit dem Tante Lenchen, das ich kannte, identisch gewesen sein soll. Ihr Mann ist als einer der ersten im Krieg gestorben, schon am zweiten Kriegstag, dem zweiten September, einen Tag nach meinem Geburtstag und zugleich achtundzwanzig Jahre vor meiner Geburt, denn ich bin am Tag des Weltkriegsbeginns geboren. Tante Lenchens Foto (nicht in BDM-Uniform, sondern in weißer Bluse, ein Brustporträt) stammte aus der anderen Welt, mit der sie alle abgeschlossen hatten, jeder auf unterschiedliche Weise, alle Insignien aus dieser Zeit hatten sie entfernt, das Wort BDM fiel in meiner Kindheit nie, nur das eine Foto wurde noch geduldet, der Mann in Uniform, der Tote. Sicher hat man mir damals erklärt, wer das sei, ich habe es aber nie begriffen oder mir nie merken können, vielleicht weil ich seinen Namen nie auf einem unserer Grabsteine gelesen hatte. Schon mein Großvater Wilhelm, J.s Vater, war mir völlig fremd, wie aus einer uralten Vorzeit herüberragend in Schwarzweiß, obgleich er erst so lange tot war, wie ich lebte. Wir hätten uns fast noch die Hand reichen können. Wir hätten uns fast noch in die Augen schauen können, wir, die beiden musischen Menschen. Mein Großvater ist immer genauso lange tot, wie ich lebe. Ich vermute, der Mann in Wehrmachtsuniform war Tante Lenchens Mann, aber ich werde es nie erfahren, das Foto existiert nicht mehr, wie fast alle Fotos auf dem Schreibtisch und der Vitrine und dem kleinen Glastisch (neben dem Schreibtisch) meiner Großmutter. Ich lief mit vier, mit fünf Jahren durch das Haus meiner Großmutter, allein und glücklich, und begriff nie, daß ich mich durch ein Haus bewegte, das in erster Linie von den Toten bestimmt wurde. Meine Großmutter war, wie ich viel später begriff, ja auch erst Witwe geworden, als ich geboren wurde. Mir kam es so vor, als sei die Gegenwart von der Vergangenheit auf den Fotos getrennt wie durch tausend Jahre, wie durch eine nur mythisch begreifbare Zeitverrückung. Das Haus war bevölkert von kleinen schwarzweißen fotografischen Schemen, die für mich zugleich riesenhaft groß in den Zimmern im Untergeschoß westen, als deren eigentliche Bewohner und als die, die das eigentliche Anrecht auf dieses Haus und seine Zimmer und alles in ihnen hatten. Und alles war immer still, das einzige, was ich in diesem Haus hörte, war das Gurren der Tauben und der tiefe Glockenklang der Bad Nauheimer Dankeskirche, meine erste Musik. Die Lärmschutzfenster würden erst dreißig Jahre später kommen. Im nachhinein begreife ich, daß das Haus von Anfang an für mich wie ein Museum war, mit meiner Großmutter als Museumswärterin. Bis zum Tod meiner Großmutter veränderte sich im Wohnzimmer, im Eßzimmer nichts, besonders der Schreibtisch meines Großvaters wurde nicht angerührt, nur dauernd abgestaubt und geputzt und gewienert entweder von meiner Großmutter in Kittelschürze oder vom Tante Lenchen in Kittelschürze (wahrscheinlich staubte sie auch ihr eigenes Jugendbildnis ab) oder von einer der diversen Putzfrauen, am Anfang noch deutsch, ebenfalls in Kittelschürze, ab den achtziger Jahren dann meist jugoslawisch, nicht mehr in Kittelschürze. Nach dem Tod meiner Großmutter wurde sofort alles abgeräumt, alles verschwand, und auch die Möbel kamen aus dem Haus. Erst sieben Jahre nach dem Tod meiner Großmutter begann ich mit der Rekonstruktionsarbeit. Wo sind all die Gegenstände hin? Das kleine, aus Erz gegossene Wikingerschiff, das mich meine ganze Kindheit beschäftigte? Das schwarze Steinbrett (aus Diabas wie unsere Grabsteine) über der Heizung in der Wohnzimmernische: drei Gegenstände standen darauf, alle gleich wichtig für mich, ein Kosmos, angeführt von dem Wikingerschiff. Nicht mehr da. Abgeräumt. Nur in meinem Kopf ist das Schiff noch da und noch immer riesengroß, wie ein wirkliches Wikingerschiff, und das Sofapolster war das Nordmeer, auf dem es fuhr. Daneben ein Elefant aus Metall mit hohlem Bauch, in den man
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