Das Zimmer
dagewesen war, hatten sie die Kittelschürzen kurze Zeit abgelegt, aber später zogen sie sie wieder an, noch bis in die neunziger Jahre. Meistens hatten die Kittelschürzen ein kleinteiliges Muster, Blumen oft, mit einem Farbstich ins Blaue, Graue und Lilafarbene, damit man die Flecken von der Hausarbeit nicht sieht. Aber sie wurden ja sowieso jeden Tag gewaschen. Noch meine Mutter hatte eine ganze Auswahl an Kittelschürzen zur Verfügung. Auch wenn sie zur Nachbarin ging, trug sie eine Kittelschürze. So zeigte sich jeden Vormittag eine Versammlung von kittelschürzentragenden Frauen in den Straßen, jede vor ihrer Tür oder bei der Nachbarin am Gartentor, und dann bald schon zu dritt oder zu viert versammelt. Die Grüppchen standen alle zwanzig Meter. Im Haus meiner Großmutter, also in der Uhlandstraße, trug meine Großmutter eine Kittelschürze, ebenso wie das Tante Lenchen eine Kittelschürze trug, wenn sie aus Freiberg kam und im Haus half, die Nähfrau Däschinger trug eine Kittelschürze, die Putzfrau trug eine Kittelschürze,so zogen sie als Kittelschürzenarmee durchs Haus und sorgten für Disziplin und Ordnung. Sie kamen überallhin, bis in die letzten Ritzen, ebenso wie der Geruch meines Onkels. Die Oberarme, die aus den Kittelschürzen herauskamen, lagen immer blank und waren bei den älteren Frauen dick und fleischig, ich dachte, wenn ich diese Oberarme sah, stets an die Keulen, die beim Metzger Blum auslagen, oder an die Brotlaibe beim Bäcker, nur waren diese frisch, im Gegensatz zu den Oberarmen, die bereits am Einfallen waren und schon Dellen hatten. Am Ende ihres Lebens hatte meine Großmutter nur noch ganz dünne Arme und konnte die Töpfe in der Küche kaum mehr heben, aber sie trug immer noch Kittelschürzen, nur daß diese unterdessen drei Nummern kleiner gekauft wurden. Jetzt aber steht sie vergleichsweise gesund und munter am Herd, und Onkel J. erzählt gewichtige Dinge von seinem Arbeitstag. Eine Ladung kam aus Chile. Er spricht das Wort mit Ehrfurcht aus, wie etwas ganz Großes. Chiie – leh! Mit hohem I am Anfang. Das Wort, ein einziger Ausruf der Begeisterung. Die weite Welt, und mein Onkel dabei und mit von der Partie und sogar als zentrale Schaltstelle. Oder Lissabon, da beginnt er fast zu raunen. Ein Paket aus Lis – sa – bon direkt nach Friedberg-Ockstadt. Was es da wohl soll? Etwas aus Lissabon, der Stadt, die jeder kennt, mitten im Kirschendorf Ockstadt, das nur wir kennen, die Wetterauer! Was kann das denn sein? Eswird schon was sein, sagt meine Großmutter, irgend etwas wird es schon sein. Ja, sagt mein Onkel nachdenklich und wedelt mit dem Löffel und schaut zum Fenster auf die Straße hinaus, wo kein Auto fährt, weil sich das ganze Land noch vor den ersten Stauwellen befindet, auch das Dichterviertel, in dem das Haus steht, ist noch ganz ruhig und wird kaum passiert. So reden sie, und später, nach der dritten Tasse Milchkaffee und also dem fünfzehnten Löffel Zucker, steigt J. die Treppe empor und betritt sein Zimmer, die erste Tür links. Kaum ist er drin (die Läden im Zimmer sind geschlossen), geht die Tür zu.
Onkel J. in seinem Zimmer.
6
Mir gegenüber hieß es immer, er schläft. Wenn ich nach Bad Nauheim in die Uhlandstraße kam, sagten sie immer, ich solle leise sein, Onkel J. habe Nachtschicht (oder Frühschicht) gehabt. Das war meine Anwesenheit in diesem Haus als Kind: Ich wurde von meiner Mutter hingebracht, der Großmutter übergeben, und immer war noch ein Dritter im Haus, der aber nicht in Erscheinung trat, mein Onkel J. Er war da und nicht da. Und so verbrachte ich Stunden in dem damals noch stets frisch gelüfteten Haus, immerfort von Angst erfüllt, der grauenhafte Onkel werde irgendwann herunterkommen. Dann würde ich mit ihm in der Küche herumsitzen müssen, und am Ende würde die Großmutter zum Schade & Füllgrabe gehen, und ich müßte wieder hinab in den Keller zu meinem Onkel. Wie aus dem Nichts tauchte er immer auf, und meine Existenz für die nächsten Stunden war dann eine völlig andere als in den Stunden zuvor. Ohne meinen Onkel bewegte ich mich frei durch das Haus in der Uhlandstraße, es war mein liebster Ort, und ich freute mich jedesmal schon darauf, wenn ich in die Uhlandstraße gebracht wurde, dort war ich allein, meine Geschwisterwaren nicht da, ich mochte die Räume, mochte die Küche, ich konnte stundenlang umherstreifen und die verschiedensten Gegenstände betrachten, die für mich als Kind immer wichtig waren, vor allem die
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