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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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Gießkanne, füllt sie, kommt ans Grab zurück und gießt nun die Pflanzen, derweil er immer ich vor sich hinzischelt. Überall Blumen und Hecken um ihn herum, je nach Jahreszeit Rosen, Lavendel, Tulpen. Lilien auf den üppigeren Gräbern, die mit mehr Geld gepflegt werden als die anderen, es handelt sich hierbei vor allem um die Gräber an der Friedhofsmauer, die Honoratiorengräber. Tempelchen, Stelen, weibliche Trauerfiguren mit Siegeskranz in der Hand, den sie nach unten hängen lassen, einen Arm gramgebeugt auf den Grabstein gestützt. Die Frauenfiguren sind, wie mein Onkel bemerkt, jung und hübsch, nur leider aus Metall, kann man nicht wirklich. Aber vielleicht doch einmal probieren? Hat er sie nie angefaßt? Man kann ihnen nicht in den Schritt fassen, denn das Kleid ist aus Metall, aber immerhin die Hand auf den Po, denn dort fällt das eherne Gewand leicht und schmiegt sich an, es ist ja Reformkleidung. Alles da und genauso rund wie in Natur, man kann es fühlen. Mein Onkel und der Jugendstil auf dem Friedhof in Friedberg in der Wetterau. In den Bäumen hört man einen Zilpzalp, ein Fink ist auch da, und Tauben. Überall Natur und Tote. Manchmal ist ein Baum voller Goldhähnchen. Da stand schon mein Onkel davor, und da stehe ich als sein Wiedergänger heute manchmal davor. Die Goldhähnchen von damals sind ebenfalls schonalle tot, aber immer noch da, wie wir. Oben noch die Goldhähnchen, wenn auch andere, und unten immer noch ein Boll, wenn auch nur ich und nicht mehr der Onkel. Alles da, aber schon nicht mehr da. Und ich lege mit allen meinen Worten nun den Grabstein darüber. Und auf den Grabstein noch einmal Rosen und Lilien. Und Iris, je nach Jahreszeit. Ob mein Onkel die Rosen, die Lilien und die Iris riecht? Ob er den Kallheinz trifft (na, schon wieder zu Hause?)? Er steht vor dem Grabstein und liest die Namen. Melchior Boll, Ida Boll, August Boll, Karl Boll, Wilhelm Boll, da ist ja nur noch Platz für einen auf dem Grabstein, wie J. gerade bemerkt. Vielleicht bemerkt er es jedesmal, vergißt es aber gleich wieder, denn der letzte Platz gebührt, vorausgesetzt, die ordentliche Reihenfolge wird eingehalten, seiner Mutter. Dann wird da stehen: Auguste Boll. Seine Schwester hat nun ihre eigene Familie und ein ganz anderes Grab. Sein jüngerer Bruder hat auch bald seine Familie. Und er, J., wo soll er hin? Zur Mutter und den anderen? Aber er paßt nicht mehr auf den Grabstein. Ganz woandershin, in die Ecke mit den Einzelgräbern, die alle immer so klein sind, viele nur mit Holzkreuz? So gießt Onkel J. das Grab seiner Familie. Murrend steht er da, macht sich schlechte Gedanken oder gar keine, läuft noch zweimal zum Wasserhahn und kommt nicht auf den Gedanken, die Blumen zu richten oder den Nelkenstrauß zu entsorgen, der schon wieder vierzehnTage alt ist. Er hat ja nicht den Auftrag dazu. Auch daß vom Grab linkerhand eine in die Erde gestochene Plastikblumenvase herübergefallen ist, führt nicht zu einer Reaktion seinerseits. Es fällt ihm gar nicht auf, sein Auftrag lautet, die Blumen zu wässern. Stille. Um ihn herum, aber in gehörigem Abstand, die alten Wetterauer, die sich um ihre Verwandtengräber kümmern, immer treten sie paarweise auf und beugen sich mit Mühe Richtung Erde und Grab. Meistens in langsamen Bewegungen, manche streiten sich dabei. Das Grabrichten gehört bei den Rentnern dazu wie das Haushaltmachen, bei beidem kann es zu kleinen Streitigkeiten kommen.
    Er: Wo ist denn wieder die Gießkanne?
    Sie: Am Brunnen.
    Er: Aber wir waren doch eben am Brunnen.
    Sie: Und warum hast du sie nicht mitgenommen?
    Er: Ich trag doch schon die Blumen.
    Sie: Ja, dann sag doch was!
    Etcetera.
    Man hört sie nicht, man sieht sie nur gestikulieren. Fast hat man den Eindruck, der Friedhof verwandle sich unter der Hand in ein Wohnzimmer aus der Kernstadt oder dem Barbaraviertel (der Friedhof liegt dazwischen). Auch gekleidet sind sie wie zur Haushaltsarbeit. Heute Grabreinemachen. Die Frauen meist in Kittelschürzen. Die Männer beim Hinabbeugen stets mit gewaltigen Hosenböden und auseinandergewinkelten Knien, kommen sie wieder hoch? Die Frauen lassen die Knie gleich gerade und strecken ihre Hintern Richtung Himmel, als seien sie, ganz zum Schluß, doch noch einmal eine Blume wie ehedem vielleicht vor fünfzig Jahren. Eine Blume, die den Himmel sehen will. Die noch einmal in den Himmel wächst. Dabei bewirtschaften sie nur gerade ihre Toten. Jeden Tag findet sich auf dem Friedberger Friedhof die
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