Das Zimmermaedchen
du?«
»Weiß nicht.«
»Fährst du weg?«
»Mal schaun.«
»Würde dir gut tun. Mal raus hier. Du arbeitest zu viel.«
»Mhm.«
»Also, wohin?«
»Vielleicht Karibik.«
»Hört sich gut an.«
Am Dienstag sitzt Lynn in der Lounge. Von der Lounge aus hat sie einen Blick auf die Rezeption. Zimmer 304 ist nicht belegt, Chiaras Kunde noch nicht gekommen. Lynn wartet. Niemandem fällt auf, dass sie wartet. Niemandem fällt auf, dass sie überhaupt da ist. Erst um sechs verlässt sie ihren Posten, nimmt den Aufzug, fährt hoch, öffnet das unberührte Zimmer 304, schließt die Tür und legt sich unters Bett. Der Mann kommt um acht. Er beendet ein Telefongespräch, als er den Raum betritt, und klappt sein Handy zusammen. Dann zieht er sich aus und geht ins Bad. Der Duschstrahl. Noch einmal verlässt Lynn ihr Versteck. Auf dem Tisch liegt das Handy, eine Börse, ein Ehering, Silvia und Ludwig eingraviert, ein Datum, das ist jetzt zehn Jahre her. Lynn durchwühlt die Börse. Sie findet ein Paar-Bild: Mann, Frau. Das ist er, denkt Lynn. Und das: seine Frau. Dann legt sie alles an seinen Platz und krabbelt zurück unters Bett. Bald klopft Chiara, der Mann öffnet ihr, sie betritt den Raum und beginnt mit der Selbsterniedrigung. Sagt dem Mann, was sie ist, was sie will, was sie braucht, was er ihr geben soll. Und Lynn liegt da, abgekoppelt von dem, was geschieht. Abgekoppelt, denkt sie. Koppelt man die Worte ab von ihrem Ton, so bleiben Wörter, die den Menschen berühren könnten: sein, wollen, brauchen, geben.
Es ist alles anders als beim ersten Mal.
Lynn liegt reglos dort.
Was über ihr geschieht, lässt sie kalt. Lynns Bilder unterm Bett sind satt und träge. Ihnen fehlt die Frische des Unberührten. Sie speisen sich aus Gesehenem, nicht aus Vorgestelltem, sie folgen der Wirklichkeit, nicht der Einbildungskraft. Lynn kennt alles: Sie kennt den Mann, sie weiß, wie er aussieht, straffer Oberkörper unterm Anzug, enorme Größe, Lynn kennt seinen Haarschnitt, seinen Bart, und Lynn kennt auch Chiara, kennt sie gut inzwischen, kennt Chiaras Körper, kennt ihre Stimme.
Lynn liegt dort, allein unterm Bett.
Sie lässt, was auf dem Bett geschieht, über sich ergehen. Es kümmert sie nicht. Dann ist es auch schon vorbei.
Etwas fällt neben das Bett auf den Boden. Lynn zuckt kurz. Ihr Kopf kippt zur Seite. Da liegen Handschellen. Chiara tastet nach ihnen, Chiaras Hand will sie absichtlich nicht finden, lange, rote Fingernägel, Chiara tastet weiter, ihr Oberkörper schiebt sich vom Bett, Haare fallen der Schwerkraft zum Opfer, und Lynn sieht plötzlich ins umgedrehte Gesicht Chiaras, sieht einen Schädel, der fast den Teppich berührt, sieht offene Nasenlöcher, über denen ein Kettchen baumelt, sieht die Unterlippe oben und die Oberlippe unten, sieht flache Stirn und gekräuseltes Kinn, sieht weit aufgerissene Augen. Lynn legt den Finger auf die Lippen.
»Was ist los?«, ruft der Mann.
»Die Handschellen«, sagt Chiara und schwingt sich zurück aufs Bett.
Lynn denkt: Sie hat mich nicht verraten, sie hätte mich verraten können, aber sie hat es nicht getan, ich hab ihr gesagt, ich liege unterm Bett, im Eden, sie hat mir nicht geglaubt, sie hat nur unters Bett geschaut, um sich davon zu überzeugen, dass ich gelogen hab, aber ich hab die Wahrheit gesagt. Die Wahrheit: Was für ein hässliches Wort. Ein Wort, das so groß ist, man bemüht sich Tag um Tag, es zu zertrümmern, es kleinzukriegen, es in Stücke zu hauen.
Chiara ist aus dem Bett gestiegen, hat sich geduscht und angezogen. Jetzt nimmt sie das Geld vom Tisch und verabschiedet sich mit zwei Küsschen, wohl auf die Wangen des Kunden.
»Hast du ne Freundin?«, fragt der Mann.
»Was?«
»Jemanden, den du mitbringen kannst das nächste Mal?«
»Irgendwelche Vorlieben?«
»Ich lass mich überraschen.«
»Und wann?«
»Ich ruf dich an.«
»Klar.«
»Ciao«, sagt Chiara.
»Ciao«, sagt der Mann.
»Mach’s noch«, sagt Chiara.
»Was?«, fragt der Mann.
»Nichts«, sagt Chiara.
Lynn hat den Atem angehalten.
Mach’s noch.
Der Mann geht ins Bad.
Lynn kriecht ins Freie.
Sie hält sich nicht auf im Flur. Hat einen Entschluss gefasst, einen verrückten Entschluss. Etwas drängt sie dazu. Etwas, das mit dem großen Wort Wahrheit zu tun hat. Als wäre das Wort ein Wolf, der sie verfolgt und stellt und in die Ecke treibt und die Zähne fletscht und sagt, an mir kommst du nicht vorbei, nicht an mir. Lynn schaut auf die Uhr, sie hat eine Vermutung, sie
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