Das Zimmermaedchen
Anlage.
Zweiter Samstag.
Dritter Samstag.
Es sind die kleinen Dinge, die Lynn faszinieren. Der Abstand zwischen winzigem Muttermal und Bauchnabel. Das Glänzen der Lippen, nachdem das Kirschrot verschwunden ist. Dieser Mandel-Kokos-Geschmack hinter Chiaras Ohr. Wie Chiara Mmmm macht, wenn sie ihren Mund von Lynns Körper nimmt. Der unerwartete Ruck, mit dem sie Lynns Haare hart nach hinten reißt. Der angedeutete Biss in den Hals. Der Speichelfaden, den Chiara auf Lynns Brust verreibt.
Chiaras Hände, die manchmal gar nicht Lynns Haut berühren, sondern nur die Luft über der Haut, sodass die Härchen sich Chiara entgegenstrecken.
Sie liegen nebeneinander, die Schlafcouch ist ausgezogen. Chiara raucht nicht. Lynn raucht.
»Hat’s dir, ich meine, war’s Überwindung?«
»Spinnst du?«
»Gibt’s Leute, wo’s Überwindung kostet?«
»Ich hab doch gesagt, ich such mir meine Kunden aus.«
»Kunden?«
»Kunden, keine Freier.«
»Ich meine, bin ich auch ein Kunde?«
»Na ja, ein besonderer irgendwie.«
»Wie besonders?«
»Sehr besonders.«
»Du warst doch erst dreimal mit mir zusammen.«
»So was merkt man schon beim ersten Mal.«
»Woran?«
»Merkst du’s nicht?«
»Wie lange willst du das noch machen?«
»Was?«
»Das hier.«
»Mit dir?«
»Überhaupt.«
»Irgendwann wird man zu alt.«
»Und dann?«
»Was weiß ich.«
»Abhauen?«
»Wohin denn?«
»Karibik?«
Chiara lächelt müde.
Lieber noch als alles andere sind Lynn die Gespräche mit Chiara. Eigentlich nur Gesprächsfetzen. Fragen, Antworten. Lynn lauscht auf Chiaras Ton und versucht, herauszufinden, was Chiara wirklich denkt, versucht, Brücken zu schlagen zwischen den Wörtern und ihrer Bedeutung. Meint Chiara es ernst, lügt sie, ist es Ironie, ist es heimlicher Spott, ist es versteckte Verachtung, ist es ehrliche Zuneigung, Nähe, Ferne, Distanz, Enge, Lynn verheddert sich im Geflecht der Möglichkeiten. Sie beobachtet Chiaras Mund: Bei manchen Wörtern sieht sie die Zähne, bei manchen nur die Lippen, ab und zu könnte man meinen, Chiara setze zu einem Lächeln an, doch im letzten Moment wird das Lächeln verrissen und ein neues Wort geformt, ihr Mund ist wie eine Bühne, auf der immer neue Schauspieler erscheinen, und manchmal säße Lynn gern hinten im Rachen, um die Schauspieler vor ihrem Auftritt zu beobachten, zu durchschauen.
»Übrigens«, sagt Chiara. »Nächsten Dienstag bin ich wieder im Eden. Der Typ hat angerufen.«
»Was ist das für einer?«
»Keine Ahnung.«
»Zimmer 304?«
»Genau.«
»Schon mal geschlagen worden?«, fragt Lynn.
»Gib mal die Schuhe rüber.«
»Nächsten Samstag?«
»Selbe Zeit?«
»Selber Ort.«
»Freu mich.«
»Ciao.«
»Ciao.«
Den Sonntag allein. Lynn hat nicht frei. Auch am Sonntag gibt es Gäste im Hotel, gerade am Sonntag, keine Geschäftsleute zwar, aber Stadturlauber, Hochzeitsgäste, Wellnessleute. Lynn spürt innere Unruhe. Nur das Putzen schläfert sie ein, ihre Gedanken, die Bilder, die immer wiederkommen wollen, die Erinnerung an Chiaras Haut, Hände, Worte. Lynn ist längst dazu übergegangen, systematisch die Matratzen zu entstauben, zerrt sie heraus und schlägt mit einem Teppichklopfer zu, Staubwolken entkeuchen dem Stoff, sie reinigt das Bett von innen, wuchtet die Matratzen zurück und sieht zu, wie der Staub träge hinabsinkt. Währenddessen steht sie am Fenster und raucht eine ihrer sechs Zigaretten pro Tag – immer nur sechs, nicht mehr, nicht weniger, jeden Morgen packt Lynn exakt sechs Zigaretten in eine leere Marlboro-Packung –, steht also am Fenster und raucht mit dem Gesicht zum Raum, überblickt das Zimmer, um zu schauen, ob sie noch was finden kann, das sie übersehen hat. Die Schreibunterlage auf dem Tisch: Lynn hat sie bislang immer hochgehoben, um die Platte darunter zu wischen, nun aber putzt sie auch die Schreibunterlage von unten, sie putzt die Tischplatte von unten, sie putzt die Sitzflächen des Sessels und des Stuhls von unten, sie kniet sich vor den Tisch und reibt mit einem feuchten Tuch die Sohlen der Tischfüße, auch den Sockel der Stehlampe von unten, das Bett ist zu schwer, sie versucht es hochzuheben, schafft es aber nicht, und kurz überlegt sie, Hilfe zu holen, den Portier und den Aufzugsjungen, um das Bett zu stemmen, aber sie verwirft den Gedanken, man würde mich auslachen, denkt Lynn. Sie nimmt die Schubladen des Nachttischchens heraus und putzt sie von unten, sie legt sich auf den Boden und putzt den Kleiderschrank von
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