Das Zimmermaedchen
seiner Phantasie decken. Ist nicht allzu schwer. 1748 Schritte sind zu setzen. Sie ist den Weg zigmal gegangen. Heinz wird zu Hause sein, er wird nichts zu tun haben, er wird sich ausruhen vom Geschäftskrieg, er wird vorm Fernseher sitzen, er wird ihr die Tür aufmachen, so viel ist sicher. Ihre Schritte fallen kürzer aus. Deswegen sind es mehr als sonst. Jeder Tag ist Verkürzung der Zeit, jeder Schritt Verkürzung des Wegs. Noch ist das Licht nicht ganz vom Himmel verschwunden, noch bleibt ein Dämmer, der alles bedeckt, noch kann nicht von Dunkelheit gesprochen werden, noch sind Leute auf dem Weg, unterwegs, unterm Weg. Aber es ist kalt, der Sonne fehlt Kraft. Die letzte Krümmung, einmal noch über die Schulter schauen, um das Fahrzeugnähern abzuschätzen, einmal die Straße überqueren und nicht unter Räder kommen, einmal Laterne, dann schon sein Haus. Es steht einzeln und allein, kein Reihenhaus, Lynn klingelt, das Licht im Flur knipst sich an, Heinz öffnet.
»Du?«
»Ich.«
Hör zu, es ist vorbei, will er sagen, sie weiß, es ist schon lange vorbei, ich will nichts von dir, wird sie sagen, nicht das, was du denkst, das ich will. Sie lässt ihn nicht zu Wort kommen, sie drängt ihn in die Wohnung, in den Flur, sie weiß genau, was sie tun muss, sie weiß genau, was er hören will, sie verwandelt sich in seine Phantasien, und gegen seine eigenen Phantasien ist jeder Mensch machtlos. Gelingt es, die Phantasien zu knacken, dann knackt man den Menschen, und niemand kennt Heinz’ Phantasien besser als sie, Lynn Zapatek. Wenn man eine Blume so schnell zum Wachsen brächte, denkt sie, wie das Halma-Männlein zwischen meinen Lippen. Lynn weiß, dass sie danach schnell verschwinden muss, sie darf ihn nicht mit ihrer Gegenwart belasten, sie muss dafür sorgen, dass sie nur Flüchtigkeit bleibt, Erinnerung, Traum, sie ist schon an der Tür und sagt ihm, du weißt, wo du mich finden kannst, und dann ist sie draußen, sie wartet nicht ab, ob er noch was sagt und was er sagt, sie denkt, ich hab alles richtig gemacht, ich hab ihm gegeben, was er haben will, Verfügbarkeit ist das, was er wünscht, er wird sich schon melden, da bin ich mir sicher.
Zu Hause steht Lynn lange im Bad. Vor Spiegeln kommt sie nie zu sich. Hat Spiegel schon immer gehasst. Wenn sie vor Spiegeln steht, sieht sie nie sich selbst. Sieht nur große Augen, glatte Haut, Haare, die zurückgebunden sind, volle Lippen, Schultern und ein paar Muttermale. Wer ist das?, denkt sie, verlässt das Bad und kramt aus der Handtasche ihren Ausweis. Linda Maria Zapatek, liest sie, 1975 geboren, eins fünfundsechzig groß, Haarfarbe braun, Augenfarbe grün. Das, denkt sie, bin ich?
2
I hr Leben läuft wie am Schnürchen. Lynn steht auf, am Morgen, putzt sich, dann die Hotelzimmer, sie hat den Job bekommen, Heinz hat ihn ihr besorgt, und der Therapeut warf ein Wort in den Raum, das alles enthielt: Konfrontationstherapie. Gutachten, Gespräche, Vertrag, Probezeit, Kündigung schon beim geringsten Vergehen. Vergehen, denkt Lynn. Die Zeit begeht jede Menge Vergehen. Jeder Tag ist ein Vergehen. Und Lynn tut die Dinge gleichmäßig. Gästetoiletten reinigen, Halle saugen, Putzwagen richten, Bettwäsche wechseln, Betten aufschlagen, Staub wischen, Böden saugen, Bäder säubern, Spiegel, Fliesen, Wannen, loses Toilettenpapier zu Krawatten knicken, Schokolade auf Kopfkissen legen, in der Pause eine Zigarette anzünden und verqualmen lassen, am Fenster stehen, darauf achten, die Fenster nicht anzupacken, keine Fettflecken auf den Fensterscheiben, kein A schewind, der ins Zimmer weht, Mülleimer im Bad, Papierkorb im Zimmer, mit der Hand prüfen, ob auch von innen sauber, Kampf den ausgespuckten Kaugummis oder klebrigen Getränkeresten oder abgebrochenen Bleistiftspitzen, letzter Kontrollblick durchs Zimmer, letzter Kontrollgang, keine Putzmittel stehen lassen, keine abgeschraubten Deckel, keinen Lappen irgendwo in der Wanne. Lynn hat gelernt, aus den Badetüchern Schwäne zu falten. Bei Gästen, die länger bleiben, gibt es schon mal Trinkgeld.
Dann Feierabend und Alltagsdinge. Die Stunden verlaufen sich, die Abende versacken im Sofa, die Nächte sind traumlos. Lynn steht in Einkaufshallen und schaut den Menschen zu, die Wägelchen durch Gänge schieben und wissen, was sie zu kaufen haben. Lynn folgt einem von ihnen und nimmt dieselben Packungen aus den Regalen. Fast wie in diesem Film, Nikita. Lynn steht an der Kasse hinter dem anderen und legt genau dieselben Dinge
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