Das zweite Gesicht
Dazwisc h e n ei n pa a r B r ief e un d dre i B l u m engestecke.
Mit jedem Tag wurden es m ehr, als wüsste m i ttl e rweile ganz Berlin, wo sie wohnte.
Sie warf die Tür hinter sich zu, hörte draußen den Geschenkturm zus a m m e nbrechen und beschloss, noch an diesem W ochenende umzuziehen.
Achtz e hn
Henriette k am nicht. Sie rief a u ch nicht an, um die Verabredung abzusagen.
Chiara s aß auf ein e m Stuhl in m itten ih r er l e eren Wohnung. Ein zweiter S t uhl stand ihr gegenüber, daneben eine u m gedrehte Kiste; darauf eine Flasche W ein und zwei unbenutzte Gläser.
Arbeit e r h a tten am Nach m ittag ihre Sachen v er packt, in zwei Last w agen verstaut und die Kisten, Möbel und Kleiderkoffer hinaus zur Krummen Lanke gefahren. In einer Stadt wie Berlin war es nicht schwer, innerhalb einer Stunde einen Trupp Helfer zu finden: Arbeitslose gab es an jeder Straßenecke, aber Chi a ra h atte sich lieber auf ein paar Bühnenarbeiter verlassen, deren Chef sie von den let z ten Dre h arbeiten ka n nte. Noch am Vor m ittag hatte er alles Nötige organisiert, Punkt zwölf hatten sie vor der Tür gestanden.
Jetzt war die W ohnung nur no c h ein kahler, hallender Raum und hatte kaum noch Ä hnlichkeit m it dem Ort, an dem sie sich ein paar Wochen lang so wohl gefühlt hatte. Statt d essen wartete j e t z t die Villa auf sie, i h re Sachen verteilt auf die einzelnen Zimmer, Fre m dkörp e r in m itten der Einrichtung, die Jula zurückgelassen hatte. Ein paar Frauen hatten das Haus geputzt, Kommoden und Schränke und Borden abgestaubt und all e s für die neue Besitzerin hergerichtet. Das Ausräu m en der Kisten wollte Chiara morgen selbst erledigen, vielleicht ge m eins a m m it Lea, die ihre Hil f e angeboten hatte.
Warum erschien Henriette nicht zu dem vereinbarten Treffen?
Es war jetzt halb zehn. Die K olu m nistin war seit zweieinhalb Stunden überfällig, und eigentlich hatte Chiara län g st akze p tiert, dass sie nicht m ehr kommen würde. W arum saß sie d ann im m er noch hier?
Du zögerst den Abschied hinaus.
Nein, nicht den Abschied. Die Begrüßung in der Villa – eine Begrüßung durch fre m de Z i mmer, fre m de Möbel und den Geruch eines fre m den Lebens.
Aber sie hatte ihre Entsc h eidung getroffen. Hier bleiben konnte sie nicht. Hier fühlte sie sich ungeschützt und verfolgt. Es würde nicht lange ein Gehei m nis bleiben, dass sie in J u las Haus gezo g en war, aber dort gab es Mauern, eine lange Auffahrt und ein T or. Nie m and würde unverhofft vor ihrer Tür stehen, wenn sie öffn et e. Keiner würde Schachteln und Blu m en direkt vor ihrer Schwelle ablegen können.
Ist das alles, wovor du Angst hast? Ein paar L eute, die deine Fil m e mögen und m ehr in dir sehen als du selbst?
Oder fürchtest du n o ch etwas an de re s ? Ist es n i cht v i el m ehr Julas Vergangenheit, die dir Angst m acht? Glaubst du allen Ernstes, ihr H aus wäre de r id e ale O r t, um sich davor zu verstecken?
Und wenn sie nicht vor Jula oder Masken davonlief, sondern vor sich selbst?
Das Telefon hing schweigend a l s dunkler Kasten an d e r Wand i m Wohnzim m er, der einzi g e Punkt in der Leere, an dem sich ihr Blick festsaugen konnte. Sie hatte versucht, Henriette zu Hause zu erreichen, vergeblich. Und die Redaktion w ar sa m stags um diese Zeit nicht besetzt.
Egal, es war genug. Sie stand auf, ließ alles so stehen, wie es war, nahm nur die W einfl a sche und stellte sie im Hinausgehen vor die Tür der Nachbarwohnung.
Sie wollte gerade d i e Trepp e n hinuntergehen, als sie den U m schlag auf ihrer Fuß m atte b e m erkte, ein weißes, unscheinbares Rechteck ohne Beschriftung. Er m usste in der vergangenen Stunde hierh e r gelegt worden sein. Ein weiterer Verehrer? Eine Nachricht von Henriette?
Sie drehte den Brief zwischen den Fingern und be t rach t e t e das S i egel im trüben Licht der Treppenhausbeleuchtung. Eine stilisierte Bienenkönigin. Darunter ein geprägter Schriftzug: Elohim von Fürstenb e rg.
Gerade da s , was ihr f ehlte. Ve rm utlich n o ch m ehr Anschuldigungen und B elei d igungen. Sie war drauf und dran, den U m schlag liegen zu lassen. Dann aber schob sie ihn in ihre Manteltasche, eilte die Stufen hinunter, fand am Bahnhof einen freien Wagen und ließ sich zu ihrem neuen Zuhause bringen.
*
Etwas hatte sich verä n dert, s eit sie zum ersten Mal hier gewesen war. Da m al s , als Masken sie durch die schneeweißen Z i m m er
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