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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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den Rand der weißen Marmorwanne, öffnete den U m schlag und begann zu lesen.
    Liebe Chi a ra, stand da. Ich hoffe, unsere erste Begegnung hat Sie nicht allzu sehr erschreckt und auf ewig von meiner Unmöglichkeit überzeugt. Glauben Sie mir, es war wichtig, dass wir uns auf diese Weise kennen gelernt haben – vielleicht ve r stehen Sie bald, warum. Ich möchte mich gerne mit Ihnen treffen. Es ist wichtig. Wie wäre es am Montag Abend im Dorian Gray, gegen acht Uhr? Kennen Sie das L okal? Falls nicht, erkundigen Sie sich auf keinen Fall bei einem Ihrer Freunde. Erzählen Sie überhaupt niemandem davon. Ich bitte Sie zu kommen. Vertrauen Sie mir. Immer die Ihre – Elohim.
    Sie starrte das Papier an, als hätte es sich vor ihren Augen in Gold verwandelt. Dann las sie den Brief ein zweites Mal. Sie hatte nichts überlesen, hatte sich nicht getäusc h t. Elohim von Fürstenberg wollte s i e treffen, und es sah ganz danach aus, a l s läge ihr an einer Versöhnung.
    Chiara hätte darüber gelacht und den Brief zerknüllt, wäre da nicht der Unterton dieser wenigen Zeilen gewesen, der sie stutzig m achte.
    Es ist wic h tig . Erzählen Sie niemandem davon.
    Sie kannte das Dorian Gray aus Erzählun g en. Es war eines d er stadtbekan n t en Les b enlo k ale, d a s ä lt e ste, h a tte sie gehö r t. Lea hatte Chiara e i n m al m it ins Viol e tta im Nationalhof genom m en, nur zum Spaß, wie sie beto n t hatte, obwohl Chiara mehr und m e hr den Verdacht hatte,
    dass Lea dergleichen nicht abgeneigt war, m ochte sie noch so oft die Treue zu ihrem Mann beteuern.
    Das Dorian Gray war kleiner und ein wenig verrufener. Hatte Elohim vor, Chiara zu bezirzen? Das könnte im m erhin a m üsant werden. Aber das schien i h r unwahrscheinlich. Das Schre i ben klang nicht nach dem Versuch, m i t ihr anzubändeln.
    Es klang ernster. Beinahe besorgt.
    Vielleic h t verstehen S i e bald, warum.
    Chiaras Blick wanderte ein m al m ehr hinaus ins Dunkel. Das Licht vom W ohnzimmerfens t er kroch an den weißen Birkenstäm m en e m por und verlor sich, bevor es die Ränder ihrer Kronen erreich e n konnte; die Ä ste hätten ebenso gut endlos in die Höhe reichen können, m ächtige Netzwerke, die sich wie ein Kokon über der Villa schlossen.
    Vertrauen Sie mir.
    Sie warf den Brief u n wirsch bei s eite, er flatterte d i e Wölbung der W anne entlang und blieb an der tiefsten Stelle liegen, neben dem Abfluss.
    Aus d e m Rohr drang leises Röcheln.
    Chiara runzelte die S tirn und beugte sich vor. Die Laute rissen nicht ab. Sie stand auf, u m r undete die Wanne zur Hälfte, schaute noch ein m al prüfend nach draußen, ehe sie in die leere Wanne stieg, s i ch hinkniete und ihr Gesicht bis auf wenige Zenti m eter an den Abfluss brachte. Über der Öffnung war kein Sieb, sie konnte direkt ins Dunkel sehen. Dann drehte sie den Kopf und legte ein Ohr an den Ab f l uss. Falls je m and sie j e tzt von draußen beobachtete, musste sie ein feines Bild abgeben, auf Knien in der Wanne, das Gesicht auf den Boden gepresst, das Hinterteil in der Höhe.
    Das Röcheln brach ab. Ein letztes Gurgeln in der  Leitung, dann war Stille.
    Sie richtete sich auf, ver w undert über sich selbst. W arum beschä f ti g te sie s i ch m it solch ein e m Unsinn? Ihr Blick fiel wieder auf den Brief am Bod e n der W anne. Es war fast, als hätte der Abfluss d i e Laute nur von sich gegeben, um ihre Auf m erks a m keit noch ein m al auf das fortgeworfene Schreiben zu lenken.
    Gut, dachte sie resigniert und hob das Papier auf, wenn sich sogar schon ein paar dum m e, tote Gegenstände gegen m i ch verschwören.
    Sie läc h elte.
    Aber tief im Inneren war ihr zum H e ulen zu m ute.
     
     
    *
     
     
    »Gott sei Dank! Ich habe so gehofft, dass Sie kommen würden.«
    Elohim sprang auf und strec k te i h r die Hand entgegen. Chiara griff nicht danach. Sie setzte sich ungefragt auf den freien Platz und ließ ihr Gegenüber nicht aus den Augen.
    Elohim von Fürstenberg stand einen Augenblick lang ein wenig verdattert da, dann sank sie zurück auf ihren Stuhl. Sie trug einen grauen Anzug m it eingestecktem Tuch, enge schwarze Lederhandschuhe, wie m anche Auto m obilfahrer sie benutzten, und hatte das Haar zu einem strengen Knoten a m Hinterkopf zus a mmengefasst. Ihr Make-up war nicht d ezent, aber auch nicht so grell wie die aufdringliche Kriegsbe m alung, m it der sie im Babelsberger Atelier erschie n en war. Chiara nahm an, dass sie heute der wahren Elohim von Fürstenberg

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