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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sei, eine Art Messias. Die T heo s ophen sehen in einem Avatar eine Inkarnation des Göttlic he n.« Er verzog die
    Mundwinkel. »Sehen Sie, ich habe eine ganze Menge von diesem Zeug gelesen, weil ich es selb s t n i c h t glau b en konnte. Aber m anches davon … nun, Sie und die anderen sind der lebende Beweis.«
    Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
    »Annie Besant ging schon Anfang des Jahrhunderts nach Indien und kam von dort m it einem Brah m a m enjungen na m ens K r ishna m urti zur ü ck, den sie den übrigen Theosophen als neuen Heiland der Bewegung vorstellte. Aber nic h t m al ihre treue s ten Anhänger haben ihr das abgenom m e n, und als schließlich gar ein Buch m i t Heilslehren erschien, das angeblich von d e m Jungen stam m t e, tatsächlich aber von Mrs. Besant geschrieben worden war, zogen sich viele aus der Theosophie zurück. Fast wäre die Bewegung daran zerbrochen, Annie Besant musste den inneren Zi rkel verlassen und gründete ihren eigenen Orden.«
    »Und Jula ? «
    »Zu diesem Zeitpunkt war Jula noch gar nic h t in Berlin. Ich spreche von der Zeit um 1909, 1910. Aber ein paar Jahre später, nachdem Jula beschlossen hatte, sich vom Fil m geschäft loszusagen, um ganz ihren fixen Ideen nachzulaufen, folgte sie dem Beispiel Annie Besants und reiste nach Indien. Und sie kehrte in Begleitung eines Brah m anenkindes zurück, genau wie ihr Vorbild.«
    Chiara schüttelte stumm den K opf. Vielleicht war es gut, dass sie und Jula sich nicht m ehr begegnet waren.
    » W enig später übernahm Jula die R o lle in Medusa – zu diesem Zeitpunkt m üs s en Masken und die anderen sie tatsächlich vergöttert haben, in einem Maß, das weit über die Anbetung einer Schauspielerin hinausging. Aber wir wissen ja, wie diese Dreharbeiten endeten. Darüber kam es auch zum Bruch zwisc h en den beiden. Jula sagte sich von  der Gruppe los und brach den Kontakt zu Masken und den anderen ab. Etwa zur selben Zeit ließ sie die Villa bauen, in der sie w ohl eine W e ile m it d e m Jungen gelebt hat. W as dann genau geschehen ist, weiß ich nicht – wahrscheinlich weiß es nicht ein m al Masken selbst. Der Junge verschwand. Möglicherweise ließ Jula ihn zurück in seine Hei m at bringen.«
    »Dann hatte sie eingesehen, d a ss er ein g anz n or m ales  Kind war ? «
    »Nein, im Gegenteil. Er war kein gewöhnliches Kind. Ich denke eher, dass sie Angst vor ihm beka m . Der Junge war m ächtiger, als s i e für m öglich gehalten hatte. Sie fürchtete sich vor ih m , s o wie Masken es vielleicht schon früher getan hatte, als er d i e Macht des Jungen erkannte – was ihn freilich nicht davon abgehalten hat, eben diese Macht für seine Zwecke zu nutzen.«
    »Ich verstehe nicht …«
    »Nein, natürlich nicht. W ie könnten Sie auch ? « Er schüttelte den Kopf und kratzte sich unablässig die Brust, m it Fingern, die zu Krallen g e krümmt waren. »Sie werden anneh m en, dass ich genauso verrüc k t bi n wie I h re Schwester.«
    Lächelnd um fasste sie m it einer weiten Ge s t e d en Rau m .
    »Verrückt? W i e komm e n Sie darau f ? «
    Er grin s t e m it einem Mal, f ast ein wenig erleichtert.
    »Hören Sie m i r einfach zu, ja? E gal, was Sie darüber denken.«
    Sie nic k te.
    »Dieser Ju n ge hat so etwas wie S puren hi n t erlassen « , fuhr er fort. »Fragen Sie m i ch nicht, wie er es ge m acht hat und waru m . Vielleicht war das eine Art Beweis für seine Fähigkeiten, vielleicht nur ein kindlicher Spaß, den er sich
    erlaubt hat.« Er runzelte die Stirn. » W ie auch immer … Er hat sieben Orte im Scheunenviertel, wie soll ich sagen … berührt? A k tiviert? Oder einfach n ur ent d eckt wie ein Wünschelrutengänger? Ich weiß es nicht. Fest s t eht, da s s es m it diesen sieben Orten etwas ganz Besonderes auf sich hat. I h re Sc hwester h ätte sie wohl Orte der W i edergeburt genannt oder irgendein ander e s b e d e u t ung ssc hw eres Wo rt dafür gefunden. Die W a hrheit ist, dass dadurch …«
    »Ja ? «
    »Dass dadurch Doppelgänger erzeugt werden.«
    Sie starrte ihn an. Ein Gefühl überkam sie, als würden die W ogen ihres Rausches wie stür m i sche Brecher über ihr zusammenschla g en. Sie wollte ihn ausla c hen, wollte aufstehen und gehen, wollte etwas ganz besonders Zynisches und Brillantes sag e n – aber nichts davon bekam sie zu s t ande.
    »Doppelgänger«, sagte sie leise.
    »Ja.«
    Sie dac h te an das, was sie im hint e ren Teil jen e s Restaurants beobachtet hatte, in dem sie mit Masken

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