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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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besser zuhören zu können als noch vor wenigen Minuten.
    »Nie m and hat Sie gezwungen m itzugehen«, sagte er.
    »Einer Ihrer Leute hat gesagt, dass sich je m and m it m i r über Medusa unterhalten wolle. Ich war neugierig.« Sicher  – und völlig veräng s tigt, als die Männer aus dem nachtschwarzen Dunkel aufgetaucht waren.
    »Gut, dann fangen wir m it Medusa an.« Er fiel zurück auf das Sofa. Fragte sich, wer hier wen nervös m achte. Der Mann konnte einfach nicht r u hig sitzen bleiben. Er schob eine Hand unter seinen Mantel und kratzte sich durch den S t off seines H e m des a m Oberkörper. » W ir alle waren dabei, als das Atelier ausge b rannt ist. Wir waren Ko m parsen.«
    Ihr f i el ei n , was Henri e tte gesa g t hatte. Etwas im Zusammenhang m it dem Medusa-Fiasko, und darüber, dass sich die Vergangenheit r eg t e. Hatte das m it diesen Leuten zu tun?
    Er zögerte kurz, dann knöpfte er sein angegrautes H e m d auf, schlug es m its a m t dem Mantel zurück und entblößte seinen Oberkörper. Er trug nichts darunter.
    Chiara hörte für einen Mo m ent auf zu at m en.
    Seine Brust und sein Bauch sahen aus, als hätte m an sie m it dickflüssigem Leim bestrichen, der zu bizarren Strähnen und Beulen geronnen war. Eine Brustwarze war noch zu sehen, die andere von einer W ulst aus wildem Fleisch verschluc k t. An m anchen Stellen war die verbrannte Haut schneeweiß, an anderen unnatürlich rosa. Mancherorts war das F l e i sch aufgeraut und von roten Kratzspuren zerfurcht.
    Er gönnte ihr diesen Anblick noch einen Mo m ent länger, dann knöpfte er sein Hemd wieder zu.
    »So ähnlich sehen die meisten von uns aus, m anche noch viel schli mm er«, sagte er. »Die Männer, die ich Ihnen geschickt habe, hatten das g l e i che G l ück w i e ich: Unsere Gesichter sind weitgehend unver s ehrt geblieben. Aber ich kann Ihnen andere zeigen, wenn Sie das wünschen … Männer und Frauen, die nic h t m ehr wie Menschen
    aussehen. E i n paar wagen sich bei Tageslicht nicht m ehr ins Freie. Und das sind nur die äußerlichen W unden. Einige von uns hat m an weggeschlossen, weil sie in der Öffentlichkeit Anfälle beka m en und wie a m Spi e ß geschrien haben, wenn sie nur eine offene Fl a m m e sahen. Ganz zu schweigen von den fünf oder sechs, die sich seit dem Brand das Leben genomm e n haben.« Er sprach sehr ruhig, ohne eine Spur von Verbitterung. Vielleicht war er deshalb der Wortführer dieser Menschen.
    » W as tun Sie hier draußen ? «, fragte sie m it belegter  Stim m e.
    »Ein paar von uns, eigentli c h sogar eine ganze Menge … wir haben uns zusam m e nget a n und beobachten Masken. Sie haben ver m utlich von der Gerichts v erhandlung gehört? Diese Farce! Masken wurde freigesprochen, angeblich, weil er nichts m it d e m Feuer zu tun –«
    Sie unterbrach ih n : »I ch weiß, w as pas s ie r t ist. Die Wahrheit, m eine ich. Der Mann, der vor dem Altar verbrannte … Ich habe das alles gesehen.«
    Er betrachtete sie abschätzend.
    »Schauen S i e m i ch nicht so an«, sagte sie scharf. Sie würde sich m it ihm streiten können, wenn es darauf ank a m  – so gut es eben ging. »Ich habe alles gesehen.«
    »Das ist Unfug. Sie waren nicht dabei.«
    »Ich habe Fil m aufnahm e n gesehen.«
    »Die wurden alle zerstört.«
    »Vielleicht … vielleicht aber auch nicht.«
    Er setzte sich aufrecht. »Wo haben Sie sie gesehen ? «

»Erst sind Sie an der Reihe.« Das war albern, weil er ohnehin die   m eiste Zeit über g e sprochen hatte. Aber sie brauchte eine Pause, um nachzudenken. »Erzählen Sie   m i r alles   …   die   Sache   m it   diesen   …   Orten?   Und,   bitte,   ich  hätte gern noch einen Schluck W asser.«
    Eine Frau, die ihr vage bekannt vorka m , bra c hte eine Flasche W a sser ohne Kronkorken. Chiara konnte das Gesicht der Frau nicht auf Anhieb z uordnen, hatte aber das Gefühl, dass sie sie schon e i n m al auf der Straße gesehen hatte. Damals war ihr die schl ec ht sit z ende Perücke aufgefallen. Heute wusste sie, weshalb die Frau sie trug.
    Nachdem s i e fort war, fragte Chiara: »Ich ke n ne die s e  Frau. Sie haben m i ch beobachten lassen.«
    »Ab und an.«
    »Ist das hier … ich m eine, leben Sie alle h i er?«
    »Die m eiste Zeit, ja. Jed e nfalls ich und ein paar, die nichts Besseres zu tun haben.« Er schnaubte höhnisch.
    »Ein paar von den anderen tauchen m a l auf und verschwinden wieder. Einige schlafen in Asylen oder unter Brücken und verirren sich nur

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